: Wirtschaft geht vor Vergangenheit
15 Jahre nach Willy Brandt besucht Kanzler Kohl die Tschechoslowakei ■ Von Milan Horacek und Alexander Smolczyk
Da stand er nun mit seinen fast zwei Metern. Ganz allein neben dem kleinen Ministerpräsidenten des kleinen Landes, etwas verloren in der Weite des Flugfelds. Vor sich die Ehrengarde und das Deutschlandlied – hinter sich seine Delegation auf rotem Teppich. Worum es beim ersten Kanzlerbesuch ging, seit Willy Brandt vor fünfzehn Jahren Gustav Husak traf, das stand in den Dossiers, die Berater Teltschik seinem Chef auf den Flug mitgegeben hatte: das Schiffahrtsabkommen unterzeichnen, nachdem der Streit um West-Berliner Schiffe beigelegt ist (die taz berichtete gestern), Zusammenarbeit in Wirtschaft und Umweltschutz vereinbaren.
Ministerpräsident Lubomir Strougal, der Kohl am Flughafen abholte, ist seit 18 langen Jahren Regierungschef. Angesichts solcher politischen Langlebigkeit überrascht es, daß er heute als Befürworter von Reformen gilt. Denn mit Reformen ist es seit jenem Frühling 1967 in Prag schlecht bestellt – nicht nur politisch. Seit Mitte der siebziger Jahre ist der traditionelle tschechoslowakische Gesellschaftsvertrag – dem Volk wird die politische Mündigkeit gegen eine überdurchschnittliche Versorgung abgekauft – gefährdet. Immer schlechter kommen die CSSR-Exporte von Maschinen und Lebensmitteln auf dem verwöhnten Weltmarkt an. Im Handel mit der Bundesrepublik zeigt das Land mittlerweile das typische Profil eines Entwicklungslandes: Rohstoffe wie Kohle, Holz und Stahl gegen die Einfuhr hochwertiger Maschinen.
Am Dienstag erläuterte Regierungschef Strougal im Palais Hrzan dem Bonner Kanzler sein Programm zur Wirtschaftsreform, das im letzten Jahr beschlossen wurde und im nächsten Fünf- Jahres-Plan ab 1991 gelten soll. Die Prager Perestroika sieht vor, daß Unternehmen Gewinne, die eine bestimmte Rendite übersteigen, zur Selbstfinanzierung verwenden können. Während die Preise im Lande weiter politisch festgesetzt werden, soll für die Export-Industrie der Weltmarkt das Maß aller Dinge sein. Man will, so Vize-Minister Matejka, flexibel auf die Nachfrage des westlichen Marktes reagieren. Denn beim Export werde sich, so wird ganz offen zugegeben, der laufende Plan als Fehlschlag erweisen.
Ein Detail, das der Kanzler während des ganzen Besuches nicht vergessen sollte: Die Bundesrepublik spielt dabei eine wichtige Rolle. Deutsche Unternehmen sollen mit tschechischen kooperieren, um mit deutschem Know-How (und tschechischen Umweltvorschriften...) für den Wiederexport zu produzieren. Die Tschechoslowakei signalisierte Interesse am Bau einer Autobahn zwischen Prag und Nürnberg, und sie drängte auf Verhandlungen über einen Energieverbund mit der Bundesrepublik, der selbstverständlich sich „auf die Zusammenarbeit bei der Nutzung der Atomenergie und deren Sicherheit“ bezieht. Anzunehmen ist, daß Bundeskanzler Kohl nicht müde wurde, die hohen deutschen Sicherheitsstandards zu preisen. Dem Interesse der deutschen Delegation, leichter Zutritt zu diesen bisher verschlossenen Märkten in sozialistischen Ländern zu bekommen, wurde in freundlicher Atmosphäre begegnet.
Auch im Tourismus sollen neue Zeichen gesetzt wereden. Die Ausgabe von Touristenvisa an einem der Grenzübergänge ab 1989, die Öffnung zusätzlicher Übergänge und Erleichterungen bei der Praxis des Zwangsumtausches wurde vom tschechoslowakischen Regierungssprecher in Aussicht gestellt.
Dem Ziel der Modernisierung schien Strougal auch bereit, die Vergangenheit seines Landes zu opfern: Bei den Ansprachen am Diner wurde – im Gegensatz zu Brandts Besuch 1973 – mit keinem Wort das Münchner Abkommen erwähnt und auch nicht die Zeit, als Heydrich vom Hradschin aus die besetzte Tschechoslowakai regierte. Strougal: „Es gab Jahre und Ereignisse, an die man sich lieber nicht erinnern möchte.“ Dem Kanzler sprach er damit wohl aus dem Herzen.
Weit entfernt von Rindsbrühe mit Leberreis und Palatschinken trifft sich in der gleichen Stadt zur gleichen Zeit in einer Privatwohnung eine Gruppe von Oppositionellen. Es sind Schriftsteller und Historiker oder besser gesagt: Lager- und Transportarbeiter, die einst Historiker und Schriftsteller waren. Darunter auch der ehemalige Außenminister Hajek, der am nächsten Tag mit Horst Teltschik und Volker Rühe zusammen frühstücken wird. Die Charta 77 gibt seit längerem Dokumente zur Umweltverschmutzung in der Tschechoslowakei heraus, teilweise unter verschwiegener Mitarbeit von Experten aus dem Aparat. In Nord-Böhmen ist vom Sterben des Waldes schon keine Rede mehr – es ist ein Massaker, was hier abläuft. Zwei Drittel der Bäume und ein Zehntel der Äcker sind in der Tschechoslowakei geschädigt. Die Lebenserwartung der Menschen geht seit 1965 in der gesamten CSSR zurück, vor allem durch die Luftverschmutzung. Milos Hajek, einer der Sprecher der Charta, verneinte zwar, daß es bereits einen Exodus aus Nord-Böhmen gibt (siehe Interview), er be richtet jedoch von der Beunruhigung unter der Bevölkerung in der Slowakei. In dem von petrochemischen Kombinaten eingeräucherten Bratislava etwa, wo auch Alexander Dubcek wohnt, kursieren Protestunterschriften zu einem vergeblich geheimgehaltenen Bericht, der feststellt, daß die Luft in der Stadt die schlechteste der ganzen Republik ist. Doch nicht nur deswegen hat die Partei beschlossen, 15 Milliarden Kronen für Entschwefelungsprojekte im PLan bereitzustellen.
Es waren vor allem die Nachbarländer, die den Planern aus Prag 1985 in Helsinki das Versprechen abnahmen, bis 1993 die Schwefelemissionen um 30 Prozent zu verringern. Wodurch? Über die Antwort herrschte beim Gespräch in den barocken Gemächern des Palais Hrzan sofort Einigkeit: bundesdeutsche Entschwefelungstechnik und Atomstrom, um die schlechte Braunkohle zu ersetzen. Nordrhein- Westfalens Umweltminister Matthiesen ist häufiger Gast in Prag, um die Entschwefelungsprodukte seines Landes anzupreisen. Und Kanzler Kohl stellte am Dienstag nachmittag Kredite für Umweltschutzinvestitionen in Aussicht, als Strougal davon sprach, daß die CSSR die notwendigen Schritte nicht allein bewerkstelligen könne. Der Bundesregierung wird die Gönnergeste nicht nur deswegen leichtgefallen sein, weil die CSSR das am wenigsten verschuldete Land des sozialistischen Blocks ist. Sie kann so vor allem den sterbenden Bäumen im Bayerischen Wald noch eine Schonfrist geben und zudem deutschen Firmen wie der Deutschen Babcock neue Märkte eröffnen. Die Kraftwerksunion, so gehen Gerüchte, hofft dazu, den Zuschlag für die Verbesserung der Sicherheitsanlagen tschechischer Atomkraftwerke zu erhalten. Ein großer Markt, denn bis zum Jahr 2000 soll der Atomstromanteil von 24 auf 54 Prozent gesteigert werden. Und Tschernobyl? Karel Ren von der Kommission für Wissenschaft und Technik auf die taz-Frage: „Angst? Die Frage stellen wir uns nicht!“
Viel gefragt wird auch am zweiten Tag des Staatsbesuches nicht.
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