piwik no script img

„Erst waren wir ratlos, aber jetzt gehts weiter“

■ 1.500 kamen am Freitag in die Ost–Berliner Erlöserkirche, um an einer Benefiz–Veranstaltung für die inhaftierten Oppositionellen teilzunehmen / Palette reichte von Pogo–Band bis Brecht–Gedicht / 2.300 kamen am Samstag in der Gethsemane–Kirche

Aus Ost–Berlin S.Schönert

„Mensch, ist das kalt hier!“ Der etwa 20jährige Mann schüttelt sich und knöpft seinen Parka zu, reckt seinen Kopf nach oben, um zu sehen, was sich auf dem Altar abspielt. „So voll wars hier ja schon lange nicht mehr!“, schallt es von vorne, „da scheint die Missionierung ja was genutzt zu haben.“ Der junge Mann lacht. „Deswegen sind wir bestimmt nicht hier“, erklärt er und spitzt die Ohren. Über 1.500 zumeist junge Leute sitzen am Freitag abend dicht an dicht auf den Bänken der Ost–Berliner Erlöserkir che, drängeln sich durch die Eingangspforte, stehen fröstelnd im Kirchenschiff. „Laß uns mal nach vorne gehen!“, ruft der Parkaträger seiner Freundin zu, „ich versteh hier nix!“ „Vorne“ hat gerade die Schauspielerin Heidemarie Wenzel den Altarraum betreten und zu sprechen angesetzt: „Ich möchte jetzt ein Gedicht vorlesen, von dem ich weiß, das es Stephan Krawzczyk und Freya Klier auch gefallen hätte. Es ist von Bertolt Brecht.“ Die Menge quittiert das öffentliche Auftreten des früheren DEFA–Stars mit donnerndem Applaus. Dann wird das Publikum mucksmäuschenstill, um keine Zeile zu verpassen. Die Schauspielerin trägt mit lauter Stimme den „Lob des Zweifels“ vor: „Freilich, wenn ihr den Zweifel lobt / So lobt nicht / Das Zweifeln, das ein Verzweifeln ist! ... Du, der Du ein Führer bist, vergiß nicht / Daß Du es bist, weil Du an Führern gezweifelt hast! So gestatte den Geführten / Zu zweifeln.“ Als nächstes wird der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur angekündigt, der die Verteidigung von Bert Schlegel, Till Böttcher und Andreas Kalk übernommen hat. Die drei Mitarbeiter der Umweltbibliothek standen am Freitag vor Gericht, das Urteil wird heute morgen um 9.00 Uhr verkündet. Schnurs Bericht über das Verfahren ist vorsichtig; jedes Wort sorgfältig ausgewählt, jeder Satz sensibel formuliert. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung hätten ihre Sicht der Dinge vorgetragen. Nach Prüfung aller Vorkommnisse hätte er zu keinem anderen Schluß kommen können, als Freispruch zu beantragen, erklärt er lächelnd, - die Menschenmenge applaudiert, trampelt mit den Füßen auf den Boden. Schnur macht einen erschöpften Eindruck, das Klatschen kann er gut gebrauchen. Augenzwinkernd fügt er hinzu: „Ich bitte Sie, für die Inhaftierten zu beten. Aber ich bitte Sie auch: Beten Sie für den Rechtsanwalt!“ Plötzlich wird es unruhig; die Köpfe der BesucherInnen wenden sich nach hinten. Durch das Kirchenschiff kommen Flugblätter angesegelt; halb ängstlich, halb neugierig wird danach gegriffen. „Freiheit für die Inhaftierten!“ ist über einem fünfzackigen schwarzen Stern zu lesen. Nach Sekunden ist alles vorbei und vorne spielt Musik. Etwa 50 Punks drängeln sich durch die Menge, tanzen Pogo am Altar. Von den schrägen Tönen der Punk–Band verschreckt, verläßt etwa die Hälfte der Leute den Saal. „Daß auch in vielen anderen Städten was passiert ist, hat uns Mut gemacht. Wir waren erst etwas ratlos, aber jetzt gehts weiter!“, erklärt einer, der die Benefiz–Veranstaltung mitvorbereitet hat und am Ausgang Geld sammelte. Man hoffe jetzt auf ein klares Wort der etablierten Künstler. Die Adressen von DDR– Schriftstellern wie Heiner Müller oder Stephan Hermlin hängen in der Kirche aus, darüber eine politische Erklärung jüngerer Künstler, die die älteren zum Handeln auffordert. „Immerhin war der Ulrich Plenzdorf da und hat seine Bücher hier verkauft, und ein paar andere haben das erste Mal geguckt, was hier los ist!“, freut sich der Interviewpartner weiter. Mit der Zahl der BesucherInnen ist er zufrieden: „Wir haben nichts plakatiert, da sind 2.000 ganz ordentlich. Jetzt müssen wir mal sehen, was morgen ist!“ Am Samstag dann demonstrierte der Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin–Brandenburg vor 2.300 Menschen in der Gethsemane–Kirche noch einmal deutlich, daß die Kirche hinter der Oppositionsbewegung steht. Die Meinungsfreiheit sei in der Verfassung festgeschrieben, die Regierung solle dieses Recht wahren und verteidigen. Zuvor hatte sich die Kirchenleitung in einer Erklärung für die Freilassung der Verhafteten eingesetzt. „Na also, es läuft doch!“, meint ein Oppositioneller nach dem Gottesdienst und reibt sich lachend die Hände. Noch eindringlicher formulierte die „Kiche von unten“ in einer ebenfalls in der Fürbittandacht verlesenen Erklärung ihre Haltung. „Wir sehen in dieser Eskalation den Versuch, uns zu kriminalisieren und den notwendigen gesellschaftlichen Dialog zu verhindern. Die wiederholten staatlichen Versuche, gegen die im ganzen Land zunehmenden Fürbitt–, Andachts– und Informationsgottesdienste vorzugehen, betrachten wir als einen Eingriff in die kirchliche Arbeit und als Störversuche im Verhältnis zwischen Staat und Kirche.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen