: Kohl baut ausschließlich auf eine mündliche Zusage
„Es wird wird keine Stationierung neuer binärer, chemischer Waffen in der Bundesrepublik Deutschland geben“, erklärten im April/Mai 86 mehrfach Kanzler Kohl sowie die Minister Genscher und Wörner. Grundlage dieser Zusicherungen war die „Tokio- Vereinbarung“ zwischen Kohl und Präsident Reagan vom 6.Mai 1986, getroffen am Rande des Gipfeltreffens der sieben westlichen Industriestaaten in der japanischen Hauptstadt. Doch, so der US-Botschafter bei der Genfer Abrüstungkonferenz Max J. Friedersdorf zur taz: „Die Tokio- Vereinbarung besteht nur mündlich. Einen schriftlichen, authorisierten Text habe ich nie gesehen. Die Vereinbarung bindet künftige Regierungen nicht.“ Diese Aussage sowie Passagen des US-Verteidigungshaushalts 88 bestätigen einen Verdacht, der von Oppositionsparteien und Friedensbewegung in der Bundesrepublik in den letzten 20 Monaten immer wieder geäußert wurde: Ein völkerrechtlich bindendes Abkommen in dieser brisanten Frage bestehe gar nicht, und die USA bereiteten tatsächlich die Stationierung binärer Waffen in der Bundesrepublik vor. Am 15.Mai86 hatte sich der Deutsche Bundestag auf Antrag und mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen die Erklärungen der Bundesregierung in einem Chemiewaffen-Beschluß zu eigen gemacht (siehe Kasten). Die Tagung der NATO-Botschafter im Verteidigungs-Planungsausschuß der Allianz am selben Tage wurde eigens unterbrochen, bis dieser Beschluß des Bonner Parlaments gefaßt war. Damit war der Weg frei für die Aufnahme der Bi närwaffenproduktion in den USA, der eine Woche später auf ihrer NATO-Ratstagung Verteidigungsminister Wörner und seine 15 Amtskollegen im Rahmen der Billigung der NATO-Streitkräfteziele 87-92 zustimmten. Eine Aufgabe, die bislang immer den NATO-Außenministern vorbehalten war. Nur unter dieser Voraussetzung war der US-Kongreß bereit, Präsident Reagan Haushaltsmittel für die (Anfang Dezember 87 erfolgte) Wiederaufnahme der seit 1969 unterbrochenen Produktion chemischer Waffen zu bewilligen.
Eine schriftliche Fassung der „Tokio Vereinbarung“, mit der die USA laut Bundesregierung immerhin ihr aus dem Stationierungsvertrag vom 23.Oktober1954 stammendes Recht auf Modernisierung ihrer Chemiewaffen in der BRD aufgegeben hätten, wurde trotz zahlreicher Anfragen von Bundestagsabgeordneten bis heute nicht vorgelegt. Dennoch sprach Wörners Staatssekretär Würzbach am 2.Dezember87 im Verteidigungsausschuß von einer Vereinbarung, die „über jeden Regierungswechel hinaus verbindlich ist“. Selbst wenn das wahr wäre, blieben erhebliche Interpretationslücken. So konnten sich die NATO-Verteidigungsminister auf ihrer Tagung am 22.Mai86 nicht auf die Definition eines „Eventualfalles“ einigen. Der damalige Pentagonchef Weinberger verweigerte die von US-Diplomaten vorab versprochene Zusicherung, nur nach Zustimmung der Bündnispartner Binärwaffen in Westeuropa zu stationieren. Sein Stellvertreter Richard Perle ver neinte „ein Vetorecht irgendeines Bündnispartners“. Den Kongreßbeschluß zur Vernichtung der alten Chemiewaffen auf dem Territorium der BRD lehnt die Bundesregierung ab; das Pentagon hat seine Zusage zur völligen Vernichtung bis 1994 mangels „ausreichender umweltfreundlicher Kapazitäten“ zurückgezogen. Es droht die Alternative „entweder Vernichtung in der Bundesrepublik, oder alles bleibt liegen“. Damit ist der Abzugstermin 1992 völlig in Frage gestellt. Die Befürchtung, daß tatsächlich doch die Stationierung von Binärwaffen in der Bundesrepublik vorbereitet wird, nährt auch die endgültige Fassung des US-Verteidigungsetats 88/89, der als Teil des Gesamthaushaltes Ende 87 von Präsident und Kongreß unterschrieben wurde. In Sektion 126 heißt es: „Chemiewaffen in Europa sollten nur abgezogen werden, wenn sie gleichzeitig ersetzt werden durch binäre chemische Waffen, stationiert auf dem Territorium mindestens eines europäischen NATO- Staates.“ Ein Hinweis auf die „Tokio-Vereinbarung“ fehlt hier ebenso wie in der formellen Erklärung Reagans an den US-Kongreß vom 16.Oktober87 zur Aufnahme der Binärwaffenproduktion. Der formal richtige Einwand, daß Haushaltsbeschlüsse des US-Kongresses immer nur für das folgende Fiskaljahr gelten, täuscht darüber hinweg, daß sämtliche Voten des US-Parlaments seit Beginn der Binärwaffendiskussion im Jahre 84 auf dieser Linie liegen. Starke Kräfte in Administration, beiden Kongreßparteien und Militärs der USA drängen schon immer auf eine Stationierung der neuen Binärwaffen in der Bundesrepublik beziehungsweise Westeuropa. Nach erfolgreichem Abschluß der Debatte um die Produktion wird dieser Druck verstärkt. Gegenüber der taz sprach sich das Mitglied der von Weinberger eingesetzten „Kommission für eine integrierte Langzeitstrategie“, der ehemalige Sicherheitsberater Carters, Zbigniew Brzezinski, letzte Woche in Genf ausdrücklich „für eine Stationierung in Westeuropa“ aus. Er ging damit noch weiter als die aus aktiven und ehemaligen Sicherheitspolitikern und Militärs zusammengesetzte Kommission, die in ihrem vor drei Wochen vorgelegten Vorschlag für eine „Abgestufte Abschreckung“ ein Chemiewaffenverbot als „nicht verifizierbar“ ablehnt. Ob die Kommission über die Abschreckung durch Bereithaltung auch eine Kriegsführungsoption mit den Chemiewaffen verbindet, wollte Brzezinski nicht beantworten.
Unter Berufung auf den früheren Oberbefehlshaber der US- Streitkräfte in der Bundesrepublik, General Kroesen, fordern auch die Kongreßmitglieder Powell, Fascell und Porter ausdrücklich eine Stationierung der Binärwaffen in Europa, weil im Eventualfall keine ausreichenden Kapazitäten für einen schnellen Transport über den Atlantik zur Verfügung ständen. Nicht zuletzt auf die Erklärungen und Beschlüsse der bundesdeutschen Exekutive und Legislative vom Mai 1986, mit denen das Problem in absehbarer Zeit erledigt sei, beruft sich dagegen das Bundesverfassungsgericht in seiner Ablehnung der DGB-Klage gegen die Stationierung von Chemiewaffen. Möglicherweise müssen die Karlsruher Richter demnächst neu verhandeln.
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