: Der weiße Stoff
Gifte und anderes in der Milch: Wenn erst rauskommt, was da reinkommt, gehörten eigentlich viele rein und nicht so schnell wieder raus / Die ungesundeste Milch ist für den Markt gerade die beste / Wenn erst das Imitationsverbot fällt, sind die H-Milch-durstigen Verbraucher schon gut auf die Sojamilch vorbereitet ■ Von Gabi Trinkaus
Milch ist ein unverzichtbares Grundnahrungsmittel, das in 97 Prozent aller bundesdeutschen Kühlschränke zu finden ist. Andererseits wird nach Tschernobyl und Sandoz niemand mehr leugnen, daß durch die Nahrung aufgenommene Radioaktivität und Chemie zu Schäden führen. Vom Kälbersterben, Frühgeburten, Mißbildungen bei Kindern und Tieren, zusätzlichen Krebstoten war zu lesen. Längst hat sich das Sterben in unseren Sprachgebrauch eingeschlichen: Waldsterben, Fischsterben, Vogelsterben und nicht zuletzt das Menschensterben. Nur nennt das niemand so. Lieber wird stattdessen von der erstmals wieder sinkenden Lebenserwartung gesprochen.
Radioaktivität ist nicht alles
Schon lange weiß man um die Gefährdung der Milchqualität durch Chemikalien. Bereits 1947 wurden in den USA DDT-Rückstände in der Milch gefunden. Nach ausgedehnten Versuchsreihen wurde der Gifthöchstwert von 0,25 ppm (mg/kg) auf Null gesetzt. In der BRD wurde DDT dagegen erst 1972 verboten und 1973 die Toleranzwerte für Gifte in Lebensmitteln festgelegt. Seitdem sinken die Pestizidwerte, sind aber immer noch überall nachweisbar. Für PCB, das mittlerweile in gefährlichen Konzentrationen in der Muttermilch zu finden ist, gibt es im Gegensatz zu den USA noch keine Grenzwerte. Die bevorstehende Neuordnung der Höchstmengenverordnung löst bei der Lebensmittelindustrie schon jetzt heftige Proteste aus, weil sie aufgrund der zu erwartenden Strafen beim Verkauf schadstoffbelasteter Lebensmittel ihre Untersuchungskapazitäten in Milliardenhöhe aufstocken müßten. Die Molkereien verfahren mit den Chemikalien wie mit der Radioaktivität. Es wird gemixt bis die Werte stimmen. Nur ist das vielen Verbrauchern erst durch Tschernobyl bewußt geworden. Da meldete der Geschäftsführer des Verbandes der Milchindustrie, Antonius Nienhaus, schnell noch „Alles unter Kontrolle“. Doch der Milchumsatz sank um 20 Prozent, und dies zu einer Zeit, wo dank der EG-Milchquotierung für viele Molkereien die Milch knapp wird und Fusionen und Pleiten aufgrund von Überkapazitäten an der Tagesordnung sind.
Die Zahl der Molkereien schrumpfte von 617 im Jahre 1985 auf 489 Ende 1987 zusammen. Im Grunde sind sie Opfer einer gigantischen Fehlspekulation. Von 1974 bis 1980 eroberte die EG weltweit einen Milchmarktanteil von 60 Prozent, die Lager waren fast geleert. Die Bauern wurden zu erhöhter Milchproduktion aufgefordert und durch Subventionen animiert. Von 1981 bis 1983 stieg die Milchmenge um 7,5 Prozent. Nahezu gleichzeitig neigte sich der Boom seinem Ende zu. Der Fall der Weltmarktpreise um 30 bis 50 Prozent, Schuldenkrise und steigende Selbstversorgung wie z.B. in Indien ließen den Markt schrumpfen, was den Bauern 1984 schließlich die Milchquotenregelung einbrachte und den Molkereien einen harten Vedrängungs wettbewerb um die jährlichen 27 Miliarden Mark Umsatz bescherte. Nach Angaben der Kieler Bundesforschungsanstalt für die Milchwirtschaft wären 1/3 der Molkereien ausreichend, um die anfallenden Milchmengen zu verarbeiten. Antonius Nienhaus bläst ins gleiche Horn. In einem Handelsblatt-Artikel ruft er nach weiterer Konzentration. „Nur große Unternehmen können den ausländischen Milchgiganten Paroli bieten.“ Und etwas später läßt er die Katze aus dem Sack: „Potente Großunternehmer würden für den Fall, daß die Milchimitate zugelassen würden, die besten Chancen haben.“ Die Molkereien rüsten für die Zukunft und koppeln sich langsam von den Bauern ab.
Milch ab Hof beschränkt
Die großen Konkurrenten im Milchexportgeschäft, die Milchgiganten, sind Dänen und Niederländer. Deren Milch wird weltweit aufgrund ihres extrem niedrigen Keimgehaltes von 100.000 pro Milliliter gegenüber 300.000 der bundesdeutschen Milch bevorzugt. Eine neue Milchhygienerichtlinie, die den Bauern gekachelte Kuhställe aufzwingt, Schwalben- und Fliegenflug untersagt, soll das Keimzahlniveau senken und die Konkurrenzfähigkeit der Molkereien verbessern. Solche Maßnahmen haben nichts mit Gesundheit und Wohlgeschmack der Milch zu tun. Die optimale Milch, die der Verbraucher wünscht, ist auch gleichzeitig die einfachste: frische, kuhwarme Milch, direkt vom Bauern. Doch der begehrte weiße Stoff, in der Molkereisprache als „Rohmilch“ bezeichnet, darf ohne zusätzliche Kontrollen gemäß dem immer noch gültigen Milchgesetz von 1930 und der Hygieneverordnung für die Milch-ab-Hof-Abgabe nur im begrenzten Umfang ausgeschenkt werden. Mehr als zehn Liter pro Hof würde angeblich die Gesundheit der Bevölkerung gefährden. Doch die Rechtfertigung für diese Beschränkung ist inzwischen sehr fragwürdig: Die Rinder-Tbc ist längst ausgerottet und alle Ställe sind tierärztlicher Kontrolle unterworfen. Ganz physiologisch schwimmen in der Milch Millionen von Bakterien. Die meisten sind Milchsäurebakterien, die Milch in wohlschmeckende Sauermilch umwandeln und dadurch das Wachstum pathogener Keime verhindern. Die Keimzahl ist in der „Deutschen Milchvergütung“ ein bestimmendes Bewertungskriterium.
Neben Eiweiß-, Fett- und Zellgehalt errechnet sich die Geldsumme, die der Bauer von der Molkerei bekommt, aus der Anzahl der Bakterien, egal ob nützliche oder schädliche. Eine Bakterienquelle sind jedoch die vollautomatischen Melkanlagen mit ihren langen Röhrensystemen, die nur mit Hilfe von Chemikalien zu reinigen sind. Deshalb benutzen alternative Bauern höchstens eine halbautomatische Melkmaschine, die einfacher von Hand zu reinigen ist. Außerdem leiden Hochleistungskühe oft an chronischen Euterentzündungen, weshalb Ernährungsexperte Dr. Bruker nicht übertreibt, wenn er von Blut und Eiter in der Milch spricht. Gesetzlich ist das sogar erlaubt, wenn die Milch später pasteurisiert wird. Ebenso zur Reduzierung der Keimzellen tragen Desinfektions- und Reinigungsmittelrückstände bei, die in 13 Prozent aller Milchproben zu finden sind, und deren Kontrolle gesetzlich nicht vorgeschrieben ist. Da kommt es schon mal vor, daß bewußt Desinfektionsmittel in die Milch gekippt werden. Besonders belastet ist nach der Ökologiezeitschrift Chancen die Vorzugsmilch, die weitgehend der Rohmilch entspricht, aber nur von solchen Bauern produziert werden darf, die besonders geringe Keimzahlen vorzuweisen haben, also ständig mit der Giftspritze operieren oder nach biologischen Richtlinien produzieren, das heißt auch Hochleistungskühe, Massentierhaltung und importiertes Kraftfutter zu verzichten. Eine Hochleistungskuh gibt pro Jahr ca. 10.000 Liter Milch und geht im jungen Alter von vier Jahren in den Schlachthof.
Biobauer Leifert erzählt dagegen über seine nicht hochgezüchteten Tiere in der Bauernstimme, der Zeitung der unabhängigen Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft: „Die Tiere sind auf Langlebigkeit gezüchtet, da diese die besten Voraussetzungen für Eutergesundheit bieten. Die sind für uns auch besser, weil wir ja nicht mit Kraftfutter so rangehen können.“ Trotzdem liegt die durchschnittliche Milchleistung pro Kuh und Jahr bei 5.500 Litern. Bauer Leifert, Kämpfer gegen die Molkereikonzentration, vermarktet seine Milch als Vorzugsmilch selber. Die Anfangsschwierigkeiten hat er überwunden. „Wir müssen doch erst wieder lernen, Rechnungen selbst zu schreiben.“ Nach jahrzehntelanger Degradierung der Bauern zu bloßen Lieferanten fehlt allerorten das know how der Vermarktung. Bauer Leifert bewirtschaftet einen der 0,2 Prozent biologischer Betriebe. Der „Rest“ der Bauern pumpt die Milch in den Kühltank und wartet bis zu drei Tage auf den Tankwagen der mit jeder Fusionierung weiter entfernt liegenden Molkerei.
Homogenisierung: Gib der Milch saures
Aus dem Tank der Bauern wird sie in den Milchwagen gesaugt, aus dem Milchwagen in den Molkereitank. Dabei hat sie sich noch mit ein paar Giftstoffen aus den Tankbeschichtungen angereichert. Doch nun geht es ihr erst richtig an den Kragen. Sie wird pasteurisiert, das heißt 45 Sekunden lang auf 71-74 Grad Celsius erhitzt. Das ist die schonendste Behandlungsart, die vom Gesetzgeber wegen der einstigen TBC-Gefahr zwingend vorgeschrieben ist. Sie entkeimt die Milch weitgehend, denaturiert bis zu zehn Prozent des Eiweißes, Vitamin B1 und B12 und bis zu 15 Prozent des Vitamins C. Bisher sind alle Änderungsvorschläge zu diesem Gesetz abgeblockt worden, obwohl wir im Zeitalter tuberkulosefreier Kuhställe leben. Die Molkereien sind auf die durch das Pasteurisieren verlängerte Haltbarkeit der Milch angewiesen, um weitere Milchprodukte herstellen zu können und entferntere Märkte zu erreichen. „Frische Vollmilch“, die in den Läden ankommt, hat immerhin schon das Greisenalter von fünf Tagen erreicht. Rohmilch wechselt bereits nach zwei Tagen die Daseinsform und wird dick.
Trotzdem ist die pasteurisierte Milch ein Jungbrunnen im vergleich zur Hocherhitzten (10-15 Sekunden auf 135-150 Grad Celsius) und zur Sterilisierten (10-13 Minuten Grad Celsius). Obwohl sie schlecht schmeckt, das Eiweiß/ bis zu 90 Prozent denaturiert ist und 35 Prozent des Vitamins B6 nach längerer Lagerzeit einbüßt, hat die H-Milch einen Marktanteil von 50 Prozent. Sicher ein Erfolg ausgefeilter Werbestrategie: für H-Milch darf geworben werden, für Rohmilch vom Bauernhof nicht. Dabei kann es durch den Genuß von H-Milch zu akuten Erkrankungen kommen, da nachträglich in die sterile Milch eingedrungende krankheitserregende Keime sich ohne die Milchsäurebakterien ungehindert vermehren können. H-Milch-Dauertrinker verlieren mit der Zeit die Fähigkeit, Milcheiweiß zu verdauen. Frische Milch liegt ihnen wie ein Stein im Magen.
Arteriosklerose für alle
Am Pasteurisieren führt kein Weg (mit Ausnahme der Vorzugsmilch) vorbei. Beim nächsten Schritt, dem Homogenisieren, wird die Milch mit 250 atü gegen eine Metallplatte gespritzt, wodurch die Fettmoleküle zerkleinert werden. F. Kiermeier von der Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in Weihenstephan freut sich denn auch über angeblich vollmundigeren Geschmack des Getränks, seine erhöhte Weißkraft, die erleichterte Fetteinstellung und die kürzere Labzeit bei der Käseherstellung. Weniger erfreulich hingegen ist die größere Empfindlichkeit gegen Licht und Bakterien und die erhöhten Blutfettspiegel der Verbraucher: Arteriosklerose für alle. Biologische Milch wird nicht homogenisiert. Nicht, daß diese Fakten der Milchindustrie bekannt wären, doch die Homogenisierung wie die Pasteurisierung gehören zur industriellen Verarbeitung des Rohstoffes Milch. Für den standardisierten Ablauf der Herstellung wird die Milch in einzelne Bausteine zerlegt und entsprechend mit den für das Endprodukt benötigten Bakterien, Säuren, Nitraten, Aromastoffen etc. zusammengebaut. So entstehen Quark, Joghurt, Käse immer gleichschmeckend und von immer gleicher Farbe sommers wie winters.
Der große Schritt auf dem Lebensmittelmarkt, die Abschaffung des „Imitationsverbotes“, wird die Verbraucher nicht mehr erschüttern. Noch verbietet die Bestimmung, für Milchprodukte eine andere Basis als Milch zu verwenden. Die meisten kennen weder Rohmilch noch natürlich hergestellten Käse. Wenn der Rohstoff Milch dem Rohstoff Soja weicht, wird es nur die Bauern treffen. Die großen Molkereien bereiten sich bereits darauf vcor. Soja ist billiger, komplikationsloser herzustellen und weiterzuverarbeiten. Wie die bäuerliche Perspektive aussehen könnte, veriet Hermann Birnkammer, Leiter der Versuchsstation für Großtierhaltung und Betriebswirtschaft der Universität Hohenheim, ungläubig dreinschauenden Landwirten anläßlich eines Vortrages. „Langfristig wird man natürlich vom Tier wegkommen müssen, weil das wegen seiner naturbedingten Anfälligkeit für Krankheit und Tod noch immer ein ökonomisches Risiko darstellt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen