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Nach Brecht die Bilderflut?

Ende der siebziger Jahre kam die Losung von der Brechtmüdigkeit auf. Sie ging hauptsächlich vom Theater aus. Obwohl die Statistiken kaum eine solche Tendenz feststellten, war davon weltweit die Rede. Sie behauptet sich bis heute. Aber selbst ein nachlassendes Publikumsinteresse wäre noch kein Einwand gegen die fortdauernde Wirkung des Dichters. Kein Dramatiker von weltliterarischem Format hat es geschaff, das Theater fortlaufend in Atem zu halten. Auch Shakespeare nicht. Das sei einem Klassiker auch geschenkt. Dem Theater sollte man wiederum nicht verübeln, daß es sich von einstigen Erfolgsautoren erholen muß, daß es Moden nicht nur nachgeht, sondern sie macht. Das gehört seit altersher zum lebendigen Theater. Besonders lautstark, keineswegs müde, wurde die Brechtmüdigkeit auf dem Brecht-Colloquium 1978 in Frankfurt am Main verkündet. Regisseure und Stückeschreiber stellten eine „Brecht-Dämmerung“ fest. Das Werk des Dichters sei erschöpft, spreche nicht mehr zum Publikum und verbreite nur noch Langeweile, eben jene Brechtmüdigkeit. Günther Rühle, der damals alle diese Regungen und Reaktionen gegen Brecht notierte, meinte doch gegen den Stimmungskanon des Frankfurter Colloquiums einwenden zu müssen: „Wir beobachten in allem Geschilderten eher eine Abwendung der Intellektuellen (die immer auf der Suche nach dem neuen sind) von Brechts Werk, ja, es scheint, die These von der Brecht-Müdigkeit definiere nur die Ermüdung und Schwierigkeiten der Intellektuellen mit dem Werk. Das Publikum hat sie nicht.“

Bilderflut, Bilderwelt

Die These von der Brechtmüdigkeit seitens des Theaters und der Theaterkritik resultiere aus verschiedenen Schwierigkeiten, Enttäuschungen und neuen Wendungen. Ein Nachlassen des Interesses an Brecht gab es auch bei den Theaterleuten in der DDR. Die großen Wirkungen, die Brecht als Regisseur mit seinen Stücken erzielte, waren schwer erreichbar, geschweige denn zu überbieten. Was aber auch das DDR-Theater von Brecht vorführte, wurde letztlich an diesem Standard gemessen. Daß sich da Enttäuschungen einstellten, daß man sich anderen Gegenständen zuwandte, wen sollte das verwundern. Denn gerade die stärksten Begabungen kamen jetzt in die Krise. Zugleich spielte noch ein anderer Faktor eine Rolle. Die abwehrende Haltung gegenüber Brecht stand im ursächlichen Zusammenhang mit der entscheidenden Wendung, die das europäische Theater in den siebziger Jahren vollzog. Zu dieser Zeit setzte sich ein assoziatives Bildertheater durch. Eine Bilderflut und Bilderwut entfaltete sich auf dem Theater. Diese Inszenierungsweise erhielt die irreführende Bezeichnung Regietheater. (...) Dieses Theater wurde vielfach so aufgefaßt, als löse es die Ära Brecht ab, als vollziehe sich eine Wendung, eine Ablösung, als formiere sich da ein Gegensatz. Regisseure und Dramaturgen, die sich dieser Richtung zuwandten, meinten, ihr theatralisches Credo, ihre methodischen Grundlagen deutlich von Brecht abgrenzen zu müssen. Doch was einerseits wirklich im Gegensatz zu Brecht stand, war andererseits auch durch Brecht hervorgerufen.

Zwei Entdeckungen

Brecht, dem als Regisseur die gleiche Weltbedeutung wie als Dichter zukommt, hatte auf dem praktischen Theater zwei weiterwirkende Entdeckungen gemacht. Er führte einmal das erzählende Arrangement ein, dem er eine bildhafte Kraft zu geben verstand. Das bildhafte Denken großer Maler nutzte er, um es in seiner Kunst, dem Theater, voll auszubilden, so daß es zu einem unmittelbaren Element seiner Methode wurde. Die andere Entdeckung bestand darin, daß Brecht als Theatermann die Fabel eines Werkes sozusagen von sich aus, von dem Standpunkt und den Einsichten des Regisseurs, erzählte. So wurden alte Werke nicht nur ganz neu gesehen, er bewies damit auch, daß große literarische Werke in ihrer Aussage unerschöpflich sind. Diese Brechtschen Entdeckungen waren, wie bei Entdeckungen auf anderen Gebieten auch, nicht allein durch ihn herbeigeführt, aber durch ihn erfuhren sie ihre methodische Prägung, wurden sie weltweit angewandt, so daß sich eine Spur abzeichnete. Brecht stieß auf beide Entdeckungen aus dem Bestreben, soziale Vorgänge, gesellschaftliche Einsichten erkennbar zu machen, sie im theatralischen Spiel abzubilden. Die Wendung des europäischen Theaters in den siebziger Jahren vollzog sich jedoch aus anderen Antrieben. Reagiert wurde hier mehr auf die Notwendigkeit, sich in beschleunigtem Tempo von dem abzustoßen, was nicht der spezifischen Eigenart des Theaters entsprach, was andere Kunstformen und Medien, insbesondere das Fernsehen, auch konnten.

Das Theater begann sich erneut zu emanzipieren. Solche Prozesse formieren sich meist höchst einseitig, erstrecken sich darauf, nur das eine Anliegen auszubilden und sind deshalb mit großen Rückschlägen und Verlusten verbunden. (...) Die vielfältigen Einflüsse und Ursachen können hier nicht zur Sprache kommen, zu verfolgen ist nur der Gesichtspunkt, daß sich die neue Wendung des Theaters mit den methodischen Entdeckungen Brechts vollzog, aber ganz ohne dessen soziale Inhalte und dessen gesellschaftskritische Absichten. Die Veränderungen im europäischen Theater fielen in eine Zeit, in der sich weltweit ein Konservatismus durchsetzte. Unter solchen Bedingungen verselbständigte sich die formalie Qualität der Brechtschen Theaterentdeckungen, löste sie sich von ihrem sozialkritischen Bezugsfeld. Was sich von Brecht herleitete, diente jetzt im depravierten Zustand der Abgrenzung von Brecht. Das internationale Theater vermochte sich bis heute nicht aus diesen schwer durchschaubaren Verirrungen zu lösen. Noch immer sind die Vorgänge und die nicht zu leugnenden Vorstöße schwer zu historisieren. Die Verluste verdecken, was zu neuen Vorzügen führen könnte.

Auszüge aus: Werner Mittenzwei: „Das Brechtverständnis in beiden deutschen Staaten“, erschienen in Sinn und Form, Dezember 1987, Verlag Ruetten & Loening, Berlin (DDR)

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