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Punktsieg für Gorbatschow

■ Bucharins Rehabilitierung ist ein wichtiger Zwischenschritt im Prozeß der Umgestaltung Alle Beschuldigungen des Jahres 1938 wurden wegen „erwiesener Unschuld“ fallengelassen

Moskau (afp/ap/dpa) - In der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der Sowjetunion, Parteitheoretiker Nikolai Bucharin 50 Jahre nach seiner Hinrichtung unter Stalin zu rehabilitieren, sehen politische Beobachter einen Punktsieg des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow über seine Gegenspieler aus dem konservativen Partei–Lager. Daß der Oberste Gerichtshof mit der Rehabilitierung Bucharins und 20 weiterer „Rechtsabweichler“ aus der Stalin–Ära dem heutigen Parteichef den Rücken stärkte, ist auch für den weiteren Kurs der sowjetischen Politik entscheidend. In rund zwei Wochen will das ZK– Plenum unter Federführung von Politbüro–Mitglied Jegor Ligatschow über eine umfassende Erziehungsreform beraten. Nicht zuletzt das Ausmaß des Umbaus im Erziehungswesen wird einen weiteren Hinweis auf die Kräfte verhältnisse zwischen den beiden Parteiflügeln liefern. Mit Bucharin zusammen wurden vom Obersten Gericht der Sowjetunion 20, als sogenannte Rechtsabweichler 1938 in einem Schauprozeß zum Tode verurteilte und hingerichtete Revolutionäre und Weggefährten Lenins rehabilitiert. Wie der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gerassimow, am Freitag abend mitteilte, handelt es sich zunächst um eine juristische Rehabilitierung. Ob die Betroffenen auch politisch rehabilitiert und posthum wieder in die Partei aufgenommen würden, werde derzeit geprüft. Gerassimow kündigte weitere Rehabilitierungen an: „Dies ist erst der Anfang“, sagte er. Die von Kremlchef Michail Gorbatschow im vergangenen November eingesetzte Parteikommission, die die Verfolgungen unter Stalin bis Anfang der 50er Jahre untersucht, werde ihre „Arbeit fortsetzen“. Es könne nun über die Rehabilitierten wieder offen diskutiert werden. Gerassimow bezeichnete es auch als möglich, daß künftig Werke des Parteitheoretikers Bucharin herausgegeben würden. Alles belastende Material gegen die Angeklagten sei nach Feststellung des Gerichts „mit ungesetzlichen Mitteln“ erzwungen worden, sagte Gerassimow. Das Gericht habe alle Beschuldigungen wegen erwiesener Unschuld fallengelassen. Der systemkritische sowjetische Historiker Roy Medwedjew sprach in einem Telefoninterview von „einem sehr bedeutenden Geschehnis in der Geschichte unseres Landes.“ Gorbatschows Wirtschaftspolitik sei jener Bucharins sehr ähnlich. Der heutige Parteichef suche ihr alles zu entnehmen, was positiv sei.

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