„Herr, laß Einsicht regieren“

■ Friedensprominenz aus Ost und West traf sich zum gemeinsamen Fürbittgottesdienst

Die Ausgewiesenen, die Beurlaubten und die Neugierigen, sie alle trafen sich am Samstag abend zum Fürbittgottesdienst im West-Berliner Bezirk Wedding. Was in der DDR für Friedensbewegte und Dissidenten noch Sinn macht – die Kirche als einzigen Freiraum zu nutzen –, gerät in der Bundesrepublik zur eher peinlichen Show. Klagelieder, Saxophonklänge und pathetische Gebete für die, „die noch drüben sind und nicht in den Westen können“, wirkten eher inszeniert denn authentisch.

Die bekannte Szenerie der letzten Tage und Wochen: ein überfülltes Kirchenschiff, Leute, die nicht wie Kirchgänger aussehen, überquellende Bänke; die Letzten haben sich im Mittelgang niedergelassen. Von der Empore hängen die bekannten Transparente mit dem Luxemburg-Zitat, Corpus delicti auf der Januardemonstration in Ost-Berlin, das längst zum unangefochtenen Motto der Solidarität mit den Inhaftierten und Ausgebürgerten avanciert ist.

Die „Freiheit der Meinung“ wird derart eindrucksvoll von einem Schwarm unermüdlicher Fernseh- und Fotoleute repräsentiert, daß man nachdenklich wird; solch massierter Wille zur Transparenz ist eben doch nur im Westen denkbar. Die Gnadenlosigkeit, mit der sich die Ausleuchter an die Abgeschobenen ranmachen, die klickenden Spiegelreflexen und Elektronenblitze erzeugen unbehagliche Gefühle; ein bißchen schämen wir uns alle an diesem Abend; das kann Rosa so nicht gemeint haben – und Freya Klier, Stephan Krawczyk, Ralph Hirsch und Bert Schlegel haben es so nicht erwartet: Die Penetranz der Fotografen zehrt sichtlich an ihrem Nervenkostüm.

Akustischer Wechsel gegen 19.30 Uhr: Die Orgel der Kapaunerkirche dröhnt jäh in die Illusion eines falsch plazierten Fototermins; das Unbehagen bleibt: Der verlagerte Fürbittgottesdienst wirkt über weite Strecken inszeniert, aufgesetzt, peinlich. Ist im Osten die Verbindung zwischen kirchlicher Andacht und politischer Anliegen etwas gewachsen- alltägliches, ein Forum kritischer Öffentlichkeit und authentischer Oppositionsbewegung, droht an diesem Abend im Wedding die pastorale Herrschaftskritik ins zumindest Unverständliche abzugleiten: „Herr gib, daß die Regierung endlich einsichtig wird!“

Andacht und Opposition werden in eine zwiespältige Verbindung gezwungen, das Schicksal der Inhaftierten in Predigt und Fürbitte immer wieder beschwörend zelebriert. Die propagierte Demut lähmt. Die Besucher, Solidarische und Schaulustige, Privatleute und Profis, Christen und Atheisten werden zur Fürbitte aufgefordert: „Für die, die drüben sind und nicht in den Westen können“ – „die noch hinter den Mauern sind“ – „für die Machthaber in der DDR, daß ihnen ein Licht aufgehe“. Einer trifft den Ton nicht ganz: „Für die im Knast, in Ost und West – daß sie rauskommen; Freiheit für alle.“

Eva Quistorp stimmt nach umständlich-betulicher Begründung das „Vaterunser“ an. Die abschließende Kollekte für die Ost- Berliner Umweltbibliothek erbringt annähernd 4.000 Mark. Dann, nach fast zwei Stunden: eine kleine Erlösung. Ein Saxophontrio schickt seine schräg-ekstatischen Klanglinien über die noch erstarrten Besucher; der baritonen Verfremdung eines Chorales gelingt spontan, worum sich die vorangegangene Veranstaltung vergeblich abmühte: eine Verbindung aus Liturgie und Aktualität. Bedrückung weicht, einige trauen sich aus ihren Bänken, die Fotografen gehen wieder härter zur Sache.

Es beginnt, wofür die meisten wohl gekommen sind: KünstlerInnen und PolitikerInnen, darunter Jürgen Fuchs, Bettina Wegner, Reiner Kunze, Petra Kelly und Gert Bastian, Anna Jonas, Sascha Anderson und Hans-Joachim Schädlich bekunden mit Texten und Liedern ihre Solidarität mit den Inhaftierten und Abgeschobenen. Bettina Wegner bleibt mit ihren Klageliedern noch im Timbre des Vorangegangenen. Christian Kunert, ebenfalls ausgereister Liedermacher, kontrastiert mit Satirischem: Graf Lambsdorff habe mit Honecker geredet; dieser habe Gesprächsbereitschaft signalisiert, jedoch zu verstehen gegeben, der Dialog müsse erst noch eingeübt werden. „Also, liebe Freya, lieber Stephan, es handelt sich hier um eine Übung. Das Ministerium für Staatssicherheit probt den Dialog mit der Jugend.“ Danach ein Stück Lebenserfahrung, die noch öfter an diesem Abend präsentiert wurde: „Ob im Osten oder Westen, wo man ist, ists nie am besten.“

Stephan Krawczyk im Altarraum. Er hofft, daß eines Tages die Herren entlassen werden, und singt auf die Melodie eines Biermann-Liedes und in Anspielung auf das Gezänk um die Umstände seiner Ausreise: „Jetzt wills wieder keiner gewesen sein.“

Sarah Kirsch läßt Grüße überbringen: „Laßt Euch nicht irre machen.“ Gert Bastian geißelt die Ost-Berliner Pressionen, die erzwungenen Ausreisen, das Ränkespiel. Petra Kelly kritisiert die zögerliche Solidarität der Linken mit der DDR-Opposition: „Wir aber wollen nicht nur ein atomwaffenfreies, sondern auch ein repressionsfreies Europa.“ Hans- Christoph Buch entschuldigt sich für diejenigen seiner Schriftstellerkollegen, deren Solidarität ausblieb. Die Zumutungen der letzten Tage pointiert Michael Salmann: Die Opfer sollten sich wie Diplomaten auf die Spielregeln der Täter einlassen; die Täter präsentierten sich als die Opfer der Freigelassenen.

Die Reihe derjenigen, die glauben, etwas sagen zu müssen, reißt nicht ab. Oskar Lafontaine hingegen, der gesichtet worden war, ist schon wieder entschwunden, verpaßt seinen Redebeitrag und wird an diesem Abend nicht ganz unglücklich darüber gewesen sein: SPD-Politiker gelten in diesen Tage, auch in der Kapaunerkirche, als „Beschwichtiger“.

Gegen 23 Uhr, die ersten sind gegangen, der Rednerreigen will nicht enden; die wenigsten können noch konzentriert folgen. Unschlüssige stehen in den Gängen, als schon nicht mehr erwartet das Original die Bühne betritt. „Was wird nur aus unseren Träumen?“, unterlegt Wolf Biermann seine virtuosen Gitarrenklänge. „Keine Ratschläge“ für die Neuankömmlinge – oder doch? – „von einem, der schon eine Weile hier ist“ – also kurz, nur über die „Gefahr, ein Berufsdissident zu werden“. Matthias Geis