Rückschlag für Amnestiepläne in Italien

Die angeblich geplante Entführung des DC-Parteichefs De Mita liefert neue Vorwände  ■ Von Werner Raith

Eigentlich schien bereits alles klar. Quer durch die Parteien dominierten die Verfechter einer Aufarbeitung der „bleiernden Jahre“ Italiens, mit dem Ziel, durch eine Amnestie die Willkürurteile der Vergangenheit zu revidieren. Auch die führenden Köpfe der ehemaligen Roten Brigaden und Autonomen hatten sich längst zum Dialog bereitgefunden – mithin alles nur noch eine Frage der Zeit. Doch wie fragil dieser Prozeß tatsächlich ist, zeigten die letzten Wochen. Die bloße Mutmaßung um die Entführung eines DC-Parteichefs reichte aus, um die Diskussion wieder unzudrehen.

Bis vor zehn Tagen schien alles eine eher terminologische Frage: Sollte man es „Gnadenerweis“ nennen oder lieber „Amnestie“, „Strafnachlaß“ oder, neutraler, „Revision der Urteile“? Wie auch immer: Nicht mehr aufzuhalten schien eine Konkretisierung der seit Jahren schwelenden Debatte um eine „Aussöhnung“ zwischen der Gesellschaft und den ehemaligen Kämpfern der „bleiernen Jahre“, wie in Italien die 70er Jahre der Straßenschlachten und des Untergrundkampfes genannt werden.

Eine wahre Flut von Erklärungen aus dem Ausland – wo etwa 500 flüchtige Ex-Autonome und Rotbrigadisten leben – und dem Knast, wo an die 900 politische Gefangene einsitzen, sowie von Verhandlungsangeboten aus mehr oder weniger berufenem Politikermund schien anzuzeigen, daß die Zeit der bloßen Versuchsballons vorbei ist.

Doch mit einem Mal ist alles ganz anders. Vor knapp zwei Wochen verhaftete die Polizei einen Mann namens Antonino Fosso, der einem Eskortebeamten des christdemokratischen Parteichefs Ciriaco De Mita durch tagelanges Herumstehen an einer Bushaltestelle aufgefallen war. Der Mann soll mit Decknamen „Cobra“ heißen und wegen seiner eiskalten Exekutionsart gefürchtet sein, ein Vollprofi also.

Bei sich soll er, weniger profihaft, ein ganzes Dossier getragen haben mit zwar chiffrierten, den Ermittlern aber leicht entzifferbaren Plänen für eine spektakuläre Aktion der „Unione comunisti combattenti“ (UCC, im Pressejargon Neue Rote Brigaden). „Sie wollten De Mita entführen“, schlagzeilte tags darauf „La Repubblica“: „Im März, wenn sich zum 10. Mal der Entführungstag Aldo Moros jährt, wollten sie dessen Nachfolger entführen oder töten.“

Als hätten sie alle nur darauf gewartet, tönt seither aus jeder Ecke des Landes der Chor der Warner: „Sie haben sich wieder formiert“, meldete sich aus Genua der Brigaden-Richter Spatara, „und warten nur auf die Amnestie für ihre Genossen, um in alter Frische zuzuschlagen“ – wobei er allerdings auch nicht zu erklären vermochte, warum sie die Amnestie gerade durch eine Entführung hätten gefährden sollen.

Auch Alt-Staatspräsident Sandro Pertini, 91, stets ein Hardliner gegenüber den Brigaden, meldete sich zu Wort: „Die wollen mit ihren Abstandserklärungen doch nur so schnell wie möglich aus dem Knast heraus“ – als wäre es so absonderlich, daß einer die Freiheit vorzieht – „und dann wieder mit dem Töten beginnen.“

Auch dies eine eher wacklige Annahme, denn gerade von den wirklichen Attentätern sitzen nur noch ganz wenige ein (z.B. der vor zehn Tagen ebenfalls zu den „Absetzern“ gestoßene, als Mörder verurteilte Prospero Gallinari) – die anderen haben sich, viel schneller als all ihre nichtschießenden Genossen, behend zu Kronzeugen gemausert und wurden darob mit schneller Entlassung belohnt. Erneut geschossen hat keiner von ihnen.

Die Debatte um die Zukunft ehemaliger Rotbrigadisten war schon zuvor eher verwickelt gewesen: Auf der einen Seite stehen die gesprächsbereiten Brigadisten und Mitglieder der Autonomia Operaia. Sie wollen vor allem „jene Epoche aufarbeiten, aber nicht verdrängen, vergessen oder manipulieren“, wie der Gründer der Brigaden, der heute fast 50jährige Renato Curcio und der ehemalige Organisator der Moro- Entführung, Mario Moretti, erklären.

Sie wünschen „weder Amnestie noch Gnade“, sondern „eine Anerkennung seitens des Staates, daß es sich seinerzeit nicht um kriminelle Aktionen, sondern um soziale Kämpfe gehandelt hat“. Auf der anderen Seite wollen offenbar viele Politiker – etwa der Chef der Christdemokraten im Europaparlament, Flaminio Piccoli, „einen endgültigen Schlußstrich unter jene unselige Epoche“ ziehen – ohne weitere Diskussion.

Das aber sehen sowohl die Brigadisten als „Versuch zur Verdrängung eigener Schuld“ wie auch die Amnestiegegner in Politik und Justiz als „Zuklappen des Geschichtsbuchs, bevor man überhaupt weiß, was damals passiert ist“ (der kommunistische Abgeordnete Luciano Violante). Zwischenpositionen wie die einer „Prüfung jedes Einzelfalls (DC- Fraktionschef Mino Martinazzoli) oder eines „generellen Strafnachlasses“ (Sozialist Salvo Ando) lehnen beide Seiten ab.

Für die Diskutanten auf beiden Seiten sind jetzt erst einmal schwerere Zeiten angesagt: Auch wenn sich eine Identität zwischen den Roten Brigaden und den UCC keineswegs nachweisen läßt (s. Kasten), geht seither die Terrorismus-Angst wieder um. Der Prozeß ist erst einmal zum Stillstand gekommen, die Falken dominieren wieder das Terrain.