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Frankreichs Märchen um die Präsidentenwahl

Im Rennen um die Präsidentschaft treten an: Premierminister Chirac als „Hase“. Roland Barre als „Schildkröte“ und Mitterand als „Fuchs“ / Der Kampf um die Macht verkommt zum „Bilderkrieg“, in dem es nur noch um Medienfacetten der Kandidaten geht  ■ Aus Paris Georg Blume

Langsam läuft der große Wahlkampf an. Die Franzosen erwarten ihn ohne Aufregung. Spektakuläre Ereignisse sind nicht zu erwarten. „Im Radio haben sie heute morgen nur von Schildkröten, Hasen und Füchsen geredet“, erzählt Dominique, Angestellte im Fernschreibebüro. „Statt die Namen der Kandidaten sollten sie besser gleich ihre Tiernamen auf die Wahlscheine schreiben,“ meint Dominique. Sie macht sich lustig. Doch trifft sie den Kern des modernen französischen Wahlkampfszenarios am Ende des 20. Jahrhunderts – der Stil ist märchenhaft. Ihm wollen wir folgen.

Chirac ist der Hase. Als Premierminister der „Cohabitation“ hat er sich seit zwei Jahren einen Vorsprung erlaufen. Barre, der ehemalige Premierminister Giscards und Konservative vom Land, ist die Schildkröte (die Brüder Grimm sprechen hier vom Igel), die unscheinbar am Rande des Geschehens das Rennen nicht aufgibt. Es bleibt der Fuchs, natürlich Mitterrand, durchtrieben und geschickt, ein Feinschmecker zudem. Sein Lieblingsmenü: Schildkrötensuppe und Hasensteak. Damit sind die Hauptrollen verteilt, und jeder Franzose weiß ein wenig über den Fortgang der Geschichte, um nicht den Faden zu verlieren.

In dieser Woche nun kamen die Märchenerzähler in Funk und Fernsehen völlig außer Atem. Die schönste Geschichte war die vom Fuchs im indischen Ozean. Der Rotschwanz besuchte nämlich am Montag und Dienstag das Kolonialparadies unweit der Küsten Madagaskars, die Insel Reunion. Und welch Zufall: Hier wurde die Schildkröte vor 63 Jahren geboren. Geschickter und gemeiner ging es nicht.

Während sich also der Fuchs in der Wiege der Schildkröte kuschelte – die Inselbewohner gaben ihm einen brausenden tropical-populären Empfang –, mußte das nunmehr offenkundig heimatlose Kriechtier in der Ferne, in Frankreich, offiziell seine Präsidentschaftskandidatur verkünden. Um nicht allzusehr zu frieren im kalten Norden, zog sich die Schildköte dabei den gaullistischen Generalsfrack an: „Es ist Zeit, Frankreich und den Franzosen Vertrauen zu schenken. Wenn Sie wollen, schaffen wir zusammen ein starkes und brüderliches Frankreich,“ unkte es am Montag aus dem Krötenbau in Lyon. Doch die neue De Gaulle-Imitation vergaß nicht, welche Gefahren sie im Laufe der Geschichte noch erwarten. „In diesem Augenblick denke ich an meine Geburtsinsel, La Reunion,“ krächzte die Schildkröte und sah dem Fuchs ganz fest in die Augen, dann aber zielte sie vor allem auf den nächsten Gegner, den Hasen, der auf der ersten Ziellinie (im ersten Wahlgang) zu schlagen ist. „Ich bin kein Spezialist im Herumwirbeln“, sagte die Schildkröte und meinte die plötz lichen Schlenker des Hasen. „Ich habe immer rechtschaffen gehandelt“, sagte sie und meinte den Hasen, der 1981 seinen Herrn Giscard an den Fuchs verriet. „Ich bin ein Mensch der Öffnung. Ich habe keinen Parteigeist“, sagte die Kröte und meinte immer noch den Hasen, der im Rudel läuft.

Der Hase hörte dies nicht gern, stellte sich aber stumm und lief weiter. Am Dienstagabend gelangte er ins Coubertin-Stadion von Paris zu seiner ersten großen Wettkampfshow. Dort drehte er Pirouetten, so wie es ein Hase kann. Die Fragen stellte der Nachrichtensprecher Mourousi, dann lachte der Hase oder wurde ernst, ironisierte und schmunzelte. Und schon wuchs erneut sein Vorsprung zur Schildkröte, alle Umfragen lassen es vermuten. Am Parcours des Rennens strahlen bereits passend die Hasenplakate von den Mauern: Sie feiern Mut, Durchsetzungskraft und Willen des Sprinters.

Hase und Schildkröte wissen um ihr Dilemma. Sie werden sich bis zum Ende voll verausgaben müssen, um untereinander den Sieger festzustellen. Dann aber laufen sie Gefahr, auf der zweiten und entscheidenen Ziellinie vom noch munteren Fuchs gefressen zu werden. Der Fuchs weiß das auch und freut sich daran. Deshalb hält er es bisher auch nicht für nötig, seine Teilnahme am Wettbewerb offiziell bekanntzugeben. Oder bestehen an dieser Teilnahme tatsächlich noch Zweifel? Ein Füchslein aus dem Elysee-Bau (Ex-Premierminister Laurent Fabius) wollte sie unlängst ausräumen: Es gäbe 90prozentige Chancen, daß die Entscheidung des Fuchses positiv ausfiele, erzählte das Füchslein, und erzählten daraufhin das Radio und das Fernsehen und alle anderen nationalen Geschichtenerzähler.

Dominique hat von der Geschichte bereits die Schnauze voll. Sie will keine Tiere mehr im Radio. Ähnlich klagen bereits die Chefkommentatoren liberaler Blätter, wie Le Monde zum Beispiel, die im kommenden Wahlkampf kaum mehr eine Chance für inhaltliche politische Auseinandersetzung sehen, sondern einen „Bilderkrieg“(“guerre dimages“) voraussehen, in dem es nur noch um die Medienfacetten der Kandidaten geht. Kein Wunder dann, daß man Märchen wiederentdeckt. Tierbilder sind oftmals hübscher als Menschenbilder.

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