Kohl ausgerüstet / Nach Lance nun MARS

Kein Aufschub bei Modernisierung nuklearer Kurzstreckenwaffen Neues ausbaufähiges MARS-System schon in der BRD / Rakete heißt ATACMS  ■ Von Andreas Zumach

Genf (taz) – Für eine Entwarnung beim Thema „nukleare Kurzstreckenwaffen“, wie SPD und Regierungspolitiker vereint triumphierten, gibt es keinen Anlaß. Der als Erfolg Kohls in Washington verkündete Aufschub bei der 1983 von der NATO in Montebello beschlossenen Modernisierung der Nuklearsysteme unter 500 Kilometer Reichweite findet nicht statt. Der Kanzler erreichte ebenfalls keine verbindliche Zusage über die Nichtstationierung binärer Waffen in der BRD.

Die Konzentration der öffentlichen Erklärungen Kohls sowie amerikanischer Regierungsvertreter auf die „88 Raketen vom Typ Lance“, deren „Lebensdauer bis 1995“ eine „Modernisierung“ bzw. eine Diskussion darüber derzeit erübrige, ist irreführend und lenkt von den Waffenentwicklungen ab. Tatsächlich befinden sich 88 binnen 15 Minuten nachladbare Lance-Abschußsysteme mit 694 Raketen und ebensovielen nuklearen Sprengköpfen in der Bundesrepublik. Rüstungsexperten in Washington behaupten allerdings, daß von den 88 Raketenwerfern mit ihren 894 Raketen 36 Werfer und 324 Raketen in der Bundesrepublik stationiert sind, der Rest verteilt sich über Italien, Belgien, Niederlande und Großbritannien. In den USA lagern weitere 300 nukleare, 200 Neutronen- und eine unbekannte Anzahl konventioneller Sprengköpfe. Die Wortwahl „88 Lance- Raketen“ galt westlichen Sicherheitspolitikern bislang als Beleg für die Unterlegenheit gegenüber der UdSSR mit ihren über 1.300 Systemen. In der Modernisierungs-Diskussion seit Montebello ist bislang von einer reichweitenverbesserten und treffgenaueren Lance-2-Rakete die Rede. Die USA haben diese Option jedoch längst aufgegeben, und entwickeln unter der Bezeichnung „Nachfolge für das Lance-System“ (Follow on to Lance) eine völlig neue Rakete (Army-Tactical Missile-System, ATACMS), mit einer Reichweite von 130 bis 140 Kilometer bei konventionellem und 250 Kilometer bei nuklearem Sprengkopf. Diese Rakete ist als Geschoß für das Mehrfach- Artillerie-Raketenwerfersystem (MARS) vorgesehen, von dem über 600 in Westeuropa stationiert werden sollen.

Die US-Armee in der Bundesrepublik ist bereits mit rund 300 MARS-Systemen ausgerüstet, für die bisher lediglich ein 40 Kilometer weit reichender konventioneller Sprengkopf existiert. Die Bundeswehr soll rund 200 der in westeuropäischer Koproduktion hergestellten MARS erhalten. Der Rest geht nach Großbritannien, Frankreich, Niederlande und Italien. Die Haushaltsmittel für die nuklearen ATACMS- Sprengköpfe macht der US-Kongreß von einer Stationierungszustimmung der Westeuropäer abhängig. Außerdem gibt es noch technische Probleme, die eine Serienproduktion der nuklearen Sprengköpfe vorläufig nicht zulassen. Vor diesem Hintergrund ist der „Kompromißvorschlag“ des niederländischen Außenministers van Eekelen verständlich, der den Boden für die Einigung zwischen Kohl und Reagan bereitete. Danach bleibt die NATO bei ihrem 83-Beschluß über die Mo dernisierung nuklearer Kurzstreckenraketen. Sie wird allerdings wegen technischer Schwierigkeiten bei der Produktion verschoben. Die Sorge der Bundesdeutschen vor „Singularisierung“ wird entkräftet, weil von der Stationierung des ATACMS-bestückten MARS-Systems im Unterschied zu einer neuen Lance- Rakete nicht nur die Bundesrepublik betroffen ist.

Über die übrigen in Montebello zur „Modernisierung“ vorgesehen Waffensysteme (siehe taz vom 19.2.88) verlautete bei Kohls Washington-Besuch nichts. Bei der geplanten flugzeuggestützten Abstandswaffe gibt es technische Probleme, die ebenfalls einen Aufschub erfordern. Der Ersatz der 203-Millimeter-Granaten mit treffgenaueren, weitreichenderen Systemen läuft seit 1986 (siehe Kasten); die Produktion der neuen 155-Millimeter-Versionen soll in diesem Jahr erfolgen. Hinsichtlich der chemischen Waffen erhielt Kohl lediglich die mündliche Zusage, daß die flugzeuggetra gene binäre Big Eye-Bombe nicht in der Bundesrepublik gelagert werde. Das war auch bislang nie behauptet worden.