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„Dritter Weg“: Schwedens ausgeträumter Traum

■ Der Weg des skandinavischen Musterlands vom arbeitskampfärmsten zu einem der streikfreudigsten Länder / „Solidarische Lohnpolitik“ funktionierte nur im Boom

Aus Stockholm Reinhard Wolff

„Hundertausende von Streik und Aussperrung betroffen.“ - „Transportarbeiterstreik legt Außenhandel lahm.“ - „Ausstand im öffentlichen Dienst führt zu chaotischen Verhältnissen.“ Obwohl sich diese und ähnliche Schlagzeilen seit 1984 mit alljährlicher Regelmäßigkeit wiederholen, reagieren wohl die meisten Zeitungsleser noch immer mit einem gewissen Staunen: Das Land, um das es dabei jeweils geht, ist nicht etwa Frankreich, Italien oder Großbritannien - gemeinhin als so streikfreudig gerühmt oder verschrieen - sondern Schweden. Anfang Februar ging gerade wieder einmal ein umfassender Arbeitskampf zu Ende, der größte in der Metallindustrie seit 1945. Der „Wohlfahrtsstaat“ an sich, das Musterland der „Sozialpartnerschaft“, hat sich bezüglich Zahl und Umfang der Arbeitskämpfe langsam, aber sicher auf der Stufenleiter der westlichen Industriestaaten immer höher geschoben. Waren Streiks bis in die siebziger Jahre hinein ein absolutes Fremdwort, sind sie seit 1984 zum gewöhnlichen Bestandteil aller bedeutenden Tarifverhandlungen geworden. Das hatte nicht nur damit zu tun, daß nach Jahrzehnten sozialdemokratischer Regierungsmacht mit fast nahtloser Abstimmung der Gewerkschaftsinteressen Ende der siebziger Jahre die bürgerlichen Parteien an die Regierung kamen. Dies war nur ein vorübergehender und zusätzlicher Grund. Der eigentliche Anlaß war das Ende einer Hochkonjunkturphase für das Land, einer Zeit, in der der Kuchen , der verteilt werden konnte, allemal groß genug war. Ausgerechnet die Prinzipien des Zaubermittels „solidarische Lohnpolitik“ sind es, die immer wieder ein zusätzliches Konfliktpotential auftürmen, das nur über Streik und Aussperrung lösbar zu sein scheint. Hinter der Idee des „Dritten Wegs“ - es ist mittlerweile auch in Schweden still geworden um diese Theorie - steht die Vorstellung einer gesellschaftlichen Entwicklung jenseits von Kapitalismus und Sozialismus. Ein sozialdemokratischer Weg, der die schlimmsten Auswirkungen der Marktwirtschaft beschneiden soll, ohne deren Grundlagen wirklich anzutasten. Die „solidarische Lohnpolitik“ war ein Angelpunkt: Angleichung der Löhne insgesamt und innerhalb der einzelnen Branchen. In Zeiten der Hochkonjunktur war dies relativ einfach: Diese Angleichung ging immer nach oben, die Reallöhne aller stiegen, wenn auch die der Niedriglohngruppen überproportional. Die vielgerühmte Solidarität aller Lohnempfänger überdauerte aber die Rezession zu Beginn der achtziger Jahre nicht. Während die Niedriglohngruppen allenfalls ihren Besitzstand wahren konnten, mußten die Besserverdienenden angesichts der hohen Inflation reale Lohnkürzungen hinnehmen. Die einheitlichen Lohnverhandlungen hatten jeweils den Effekt einer Kettenreaktion: Die Lohnsteigerung beim Volvo–Ar beiter in Göteborg war abhängig von der des Bischofs von Stockholm - und umgekehrt. 1983 wurde dieses System von zwei Seiten her aufgebrochen. Der Gewerkschaftsdachverband verlor die Macht über seine einzelnen Branchenverbände: Die Metaller führten eigene Lohnverhandlungen, weil sie es nicht mehr einsahen, sich in dieser gutverdienenden Branche nur deshalb zurückhalten zu müssen, weil weniger rentable Wirtschaftszweige nur geringere Lohnerhöhungen verkrafteten. Die Unternehmer ihrerseits begegneten dem Arbeitskräftemangel mit übertariflichen branchen– oder ortsabhängigen Lohnaufschlägen. Beide Seiten anerkannten damit wieder die Er tragslage der einzelnen Branche bzw. Firma als Kriterium für die Lohnbildung. Genau hiergegen hatte sich die Idee der „solidarischen Lohnpolitik“ gewandt: Kriterium sollte ja eigentlich die gesamtwirtschaftliche Bewertung der menschlichen Arbeitskraft sein. In der Theorie halten die Gewerkschaften aber nach wie vor an der Hülse der „solidarischen Lohnpolitik „ ebenso eisern fest, wie die Arbeitgeberverbände sie ganz beseitigen wollen. Die Auswirkungen auf die Tarifverhandlungen sind mehrfacher Art: Die Tariflohnerhöhungen führten in den vergangenen acht Jahren - mit einer Ausnahme - zu keinen Reallohnsteigerungen. Die Inflation lag trotz regelmäßig vor den Parlamentswahlen verfügter Preisstopps über der Lohnerhöhungsrate. Auch die Streiks bis hin zum diesjährigen Metallarbeiterstreik vermögen hieran nichts zu ändern. Gesteigert wird allenfalls die Frustration der Gewerkschaftsmitglieder, die ein ums andere Mal feststellen müssen, daß den großen Worten merkliche Taten nicht folgen. Die ehemals streng zentralisierten Tarifverhandlungen splittern immer mehr auf, der Gewerkschaftsdachverband LO kann nur noch mühsam den Anschein einer koordinierten Tarifpolitik wahren. Entsprechendes gilt für die Unternehmerseite. Die gutverdienenden Branchen haben das Sagen und versuchen durch ein Auseinanderdrücken der Lohnschere, die tendenziell beseitigten „Leistungsanreize“, sprich: Konkurrenzdruck wieder verstärkt zur Geltung zu bringen. Bei Streiks und Aussperrungen, wie aktuell in der Metallindustrie, geht es deshalb auch nur am Rande um die absoluten Lohnerhöhungen. Auf den ersten Blick ganz marginale Probleme rücken in den Mittelpunkt, deren - vermeintliche oder tatsächliche - Relevanz erst vor oben entwickeltem Hintergrund einleuchtender wird. Da wurde wochenlang herumgebastelt an einem für beide Seiten akzeptablen Modell für die örtlichen Lohnzuschläge. Nicht etwa um deren Inhalt bzw. Höhe ging es, sondern ausschlieplich um deren Organisationsstruktur. Heraus kam ein vermutlich ebenso unpraktikables wie kompliziertes sechsstufiges Gebilde, das nur einen Vorteil hat: Gewerkschaften und Arbeitgeberverband können einigermaßen ihr Gesicht nach außen und innen wahren. Ob dies alles denn eine dreiwöchige Lahmlegung ihrer Firma wert sei, mußten sich Gewerkschaftsvertreter von ihren eigenen Mitgliedern bei einer Streikversammlung im Volvo–Automobilwerk in Göteborg fragen lassen: Schließlich sei man selbst Anteilseigner bei Volvo und jeder nicht realisierte Gewinn des Unternehmens durch den Streik schlage sich deshalb im eigenen Geldbeutel nieder. Kein Wunder, daß es für die Gewerkschaftler bei Volvo immer schwieriger wird, die Frage zu beantworten, ob ein Streik wie der jetzt zu Ende gegangene eigentlich in ihrem Interesse liegt. Es ging und geht nicht mehr um Umverteilungskämpfe. Allenfalls geht es um eine Besitzstandswahrung, will man nicht gleich von Scheingefechten sprechen. Vielleicht wird gerade deshalb so „verbissen“ gekämpft, weil das zugedeckt werden soll. Von beiden Seiten.

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