Die Rechnung mit der Arbeitszeitverkürzung

■ Durch die angestrebte Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden will die ÖTV erreichen, daß mehr Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst geschaffen werden / In Hamburg sprechen die Erfahrungen dagegen: Die Leistungen für die Bürger werden reduziert

Aus Hamburg Florian Marten

„Ziel: 35“ prangt auf dem Papierflieger, die Buntpapierlandschaft verspricht: „Mehr Arbeitsplätze. Bessere Leistungen für die Bürger.“ 100.000fach wirbt so die ÖTV auf Plakaten für ihren Kampf um den Einstieg in die 35–Stunden–Woche. Mehr Arbeitsplätze ? Die ÖTV glaubt bereits zu wissen, wieviele: 30 bis 50 Prozent der eingesparten Zeit sollen von der Streichung bedrohte Arbeitsplätze sichern und neue schaffen, die restlichen 50 bis 70 Prozent gehen als Rationalisierungsgewinn an die öffentlichen Arbeitgeber. Die ÖTV stützt sich hier auf ein Rechenmodell der IG Metall, dessen Richtigkeit für den Metallbereich kaum noch angezweifelt wird. Auch wenn die Metall–Unternehmer den Arbeitsplatzgewinn der 38,5–Stunden–Woche niedriger beziffern als die IGM, haben inzwischen empirische Studien, so problematisch sie im Methodendetail auch sind, durchaus plausibel gemacht, daß in der Metallindustrie Arbeitsplätze geschaffen und gerettet wurden. Ob sich diese Erfahrung aus der Metallindustrie auf den öffentlichen Dienst so einfach übertragen läßt, muß allerdings bezweifelt werden. Beispiel Hamburg: 113.000 Menschen arbeiten im öffentlichen Dienst. Die Stadt zahlt ihnen jährlich für 3,5 Mrd. Mark Löhne und Gehälter, muß 2 Mrd. Mark für Pensionen und Versorgungsleistungen aufbringen. Im stark defizitären Stadthaushalt für 1988 sind Einkommenssteigerungen von drei Prozent einkalkuliert. Jeder Prozentpunkt mehr kostet pro Jahr 52 Millionen Mark. Im harten Sparkurs der sozialliberalen Stadtregierung sind bis 1991 Stellenstreichungen von 5.000 Arbeitsplätzen vorgesehen. Entlassungen soll es nicht geben bei den 44.000 Beamten, 52.000 Angestellten und 17.000 Arbeitern. Deshalb ist ein stärkerer Arbeitsplatzabbau auch kaum möglich - es werden nicht mehr Stellen frei. Die Fluktuationsrate im öffentlichen Dienst der Stadt sinkt seit Jahren. Unumwunden gibt der Senat zu: Die städtischen Leistungen für die Bürger werden reduziert. Einen kleinen Ausgleich bieten die mittlerweile 7.000 ABM–Stel len (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen), die zum meist stillen Entsetzen der Hamburger ÖTV inzwischen eingerichtet wurden und - eigentlich gesetzeswidrig - normale Arbeitsplätze ersetzten. Der Vorteil für die Stadt: ABM–Leute werden zu 80 Prozent von der Bundesanstalt für Arbeit bezahlt, haben nach ihrer längstens zweijährigen Tätigkeit wieder Anspruch auf Arbeitslosengeld und entlasten so die städtische Sozialhilfe. Auch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich nimmt ständig zu: Über 20 Prozent der öffentlichen Arbeitsplätze sind inzwischen Teilzeitarbeitsplätze - mit steigender Tendenz. Demgegenüber rechnet die Hamburger ÖTV damit, daß der Sprung in die 35–Stunden–Woche 7.000 Arbeitsplätze schaffen und sichern würde, die 39–Stunden– Woche brächte nur 700. Diese Rechnung könnte stim men, wenn die Stadt ein Industrieunternehmen wäre, welches von ständig steigenden Produktionsziffern ausgeht. Aber: Die Stadt kann und wird in vielen Bereichen auf Arbeitszeitverkürzung mit der Einschränkung öffentlicher Leistungen reagieren: Kürzere Öffnungszeiten oder (wie für Krankenhauswäschereien und die städtischen Gebäudereinigungen geplant) durch Privatisierung. Durch die Entscheidung, niemanden zu entlassen, gibt es in vielen städtischen Bereichen Kapazitätsreserven, die jede Arbeitszeitverkürzung locker schlucken können. Zudem hat in Hamburg die Büro–Revolution gerade erst begonnen. Ob in der Finanzbehörde, im Sozialamt oder der Uni–Bibliothek, die Computer sind im Vormarsch. Die Stadt hat die Mittel für dieses Rationalisierungsinstrument enorm erhöht. Städtische Leistungen, städtische Arbeitsplätze - sie werden nicht durch die Nachfrage, sondern das politisch bestimmte Angebot festgelegt. Zwar empfahl der Hamburger Arbeits– und Sozialsenator Jan Ehlers der Hamburger ÖTV kürzlich, nur ja für die Arbeitszeitverkürzung zu kämpfen und sich Neueinstellungen vertraglich sichern zu lassen, ein Papier seiner Behörde meint dagegen trocken: „Wenn die Arbeitszeitverkürzung im Sozial– und Pflegebereich nicht zu Neueinstellungen führt, geht sie voll zu Lasten der betreuten Menschen.“