: Schlußakt im Sare–Prozeß
■ Die Schuld am Tod des Demonstranten konnte auch im Prozeß nicht vollständig aufgeklärt werden
Neun Monate lang, an 42 Verhandlungstagen, saß die Mutter von Günter Sare im Gerichtssaal 146 A des Frankfurter Landgerichts schweigend auf der Bank - als „Nebenklägerin“ im Strafprozeß gegen sowohl den Fahrer als auch den Kommandanten des 26 Tonnen schweren Wasserwerfers „WaWe 9“, der am Abend des 28. September 1985 ihren Sohn überrollt hat. An diesem Tag war es vor dem Frankfurter „Haus Gallus“, in dem die NPD ihre „Auftaktveranstaltung“ zum Bundestagswahlkampf 1987 abhielt, zu massiven, teils handgreiflichen Protesten mehrerer hundert Demonstranten gekommen. Trotz mehrmaligen Knüppel– und Wasserwerfereinsatzes der Polizei ließen sie sich nicht vertreiben. Gegen 20.50 Uhr spritzte ein Wasserwerfer(“WaWe 4“) im Kreuzungsbereich Frankenallee/Hufnagelstraße in Richtung einer Gruppe, aus der „Gegenstände“ geworfen worden sein sollen. Nach dem ersten längeren Wasserstoß liefen alle weg - bis auf einen: Günter Sare. Er versuchte, so berichteten viele Augenzeugen übereinstimmend, dem nun auf ihn allein gerichteten Wasserstrahl von „WaWe 4“ zu trotzen. Möglicherweise fiel er dabei ein oder mehrere Male hin und stand danach wieder auf. Zur gleichen Zeit verließ „WaWe 9“, ein monströser Wasserwerfer der „neuen Generation“, seinen Standort vor dem Bürgerhaus Gallus und fuhr spritzend über die Kreuzung hinweg in Richtung Hufnagelstraße. Für einige Sekunden trafen so die Wasserstöße beider Einsatzfahrzeuge den im Lichtkegel von „WaWe 4“ sich bewegenden Günter Sare. Fünf bis sieben Sekunden später hatte „WaWe 9“ Günter Sare überrollt. Sofort herbeigeeilte Demonstranten, unter ihnen Ärzte und Sanitäter, wurden von Polizisten behindert und beschimpft. Im Notarztwagen, der 20 Minuten später eintraf, wurde der Tod Günter Sares festgestellt. Danach herrschte tagelang der Ausnahmezustand Danach herrschte in Frankfurt tagelang der Ausnahmezustand. Die allabendlichen Kundgebungen und Demonstrationen entwickelten sich zu Straßenschlachten, in denen sich ohnmächtige Wut entlud. Die von überall her beorderten Polizeieinheiten reagierten mit Verfolgungsjagden, Massenverhaftungen, Prügelorgien und Einkesselungsaktionen, in deren Verlauf es zu teils schweren Verletzungen von Demonstranten durch brutale Knüppeleinsätze von Sonderkommandos kam, die auch vor Journalisten nicht haltmachten. Auf der anderen Seite wurde - zum erstenmal in der Stadt - gezielt mit Zwillen auf Polizisten geschossen. Frankfurts Oberbürgermeister Wallmann verhängte ein zweitägiges Demonstrationsverbot für das gesamte Stadtgebiet. Die Frage, ob es Mord, vorsätzliche oder fahrlässige Tötung oder gar ein bloßer Unfall war, der Günter Sare das Leben gekostet hatte, wurde zum brisanten politischen Grundsatzstreit um das „Verhältnis zum Staat“. Konnte sich Hessens SPD–Innenminister Winterstein „bei uns“ gar „keinen Menschen, keinen Polizisten vorstellen, der sozusagen bewußt einen Menschen vor sich herjagt, ihn vorsätzlich überfährt oder das Überfahren auch nur in Kauf nimmt“, so war für große Teile der Anarcho– und Autonomen–Szene klar: „Das war Mord!“ Kein Wunder, daß der - nicht nur ideologische - Abgrund zwischen „Altlinken“ und „Militanten“, kaum daß er auf der Straße offensichtlich geworden war, innerhalb der Grünen sogleich seine Parallele fand. Jutta Ditfurth warf den „Realos“, die gerade in Koalitionsverhandlungen mit Holger Börners SPD steckten, vor, sie würden die Finanzierung jener Wasserwerfer garantieren, die zur Mordwaffe taugten. Joschka Fischer wies diese Äußerung als zynische Parteipolemik zurück, geriet aber dennoch ins Grübeln, ob er angesichts des „Drucks von allen Seiten“ wirklich Umweltminister einer „rot– grünen“ Koalition in Wiesbaden werden solle. Am 10. Oktober 1985 hatte er zusammen mit Dany Cohn–Bendit und dem Ex–SDS– Vorsitzenden K.D. Wolff im Mittelpunkt eines großen „Teach–in“ gestanden, das zum Showdown zwischen Altspontis und Autonomen geriet und haarscharf an einer Massenschlägerei vorbeischlidderte. „Fischer, Bendit, Winterstein - eins ist wie das andre Schwein!“ lautete die Parole gegen die „elenden Reformisten“ und „Verräter“, die sich in den „Knechtschaftsverhältnissen“ eingerichtet hätten und jetzt Trauer über den Tod eines Demonstranten heuchelten. Einen Tag zuvor war Günter Sare beerdigt worden. Im Januar 1986 lieferte der „Sonderbeauftragte“ der Hessischen Landesregierung, Erkel, sein Gutachten ab, das Innenminister Winterstein in dem Satz zusammenfaßte: „Der Bericht zeigt, daß der polizeiliche Einsatz insgesamt außerordentlich verhältnismäßig, behutsam und zielgerecht war.“ Einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuß hatte die SPD mit Hinweis auf das Strafverfahren abgelehnt. Der Strafprozeß wegen „fahrlässiger Tötung zum Nachteil des Günter Sare“ begann im Mai 1987, eineinhalb Jahre danach. Hatte sich das Ermittlungsverfahren anfänglich gegen die gesamte fünfköpfige Besatzung des Wasserwerfers „WaWe 9“ gerichtet, so saßen bei Beginn des Prozesses nur zwei Angeklagte auf der Bank: der Fahrer und der Kommandant, beide nicht vom Dienst suspendiert. „Wenn ich spritze, sehe ich nichts“ Beiden warf die Staatsanwaltschaft vor, „unaufmerksam“ und „fahrlässig“ gehandelt zu haben, als sie Günter Sare überfuhren: Sie hätten ihn sehen müssen. Daß sie ihn gesehen haben könnten und trotzdem weiterfuhren - „vorsätzliche Tötung“ also -, blieb außer Betracht. Zentrale Beweismittel waren die Aussagen von Augenzeugen und das Foto (“Nummer 22“) eines Amateurfotografen, auf dem eine männliche Person im Strahl zweier Wasserfontänen abgebildet ist. Augenzeugen erkannten darauf Günter Sare wieder. Hampl, der Fahrer, gab gleich zu Beginn des Prozesses an, im entscheidenden Moment „nichts gesehen“ zu haben. Kommandant Reichert schwieg sich bis zum Schlußwort aus, in dem er bekun dete, er habe auch nichts gesehen, weil er gerade mit den Knöpfen für die Gaszumischung des Wasserwerfers beschäftigt war. Die beiden - nichtangeklagten - „Werfer“ des Monstrums (Wurfweite: 65 Meter) sagten als Zeugen aus, auch sie hätten „nichts bemerkt“. „Werfer“ S.: „Wenn ich spritze, sehe ich überhaupt nichts - vor allem nachts.“ Der Staatsanwalt machte im Verlauf des gesamten Prozesses keinerlei Anstalten, dieses konzentrierte Nichtsgesehenhaben mit den Mitteln juristischer Tatsachen– und Beweiserhebung zu durchbrechen. In den ersten Verhandlungswochen ergänzte sich demonstrativ dieses Desinteresse zumindest phänomenologisch mit dem anhaltenden Grinsen des Angeklagten Reichert, der sein beharrliches Schweigen auch dann nicht aufgab, als ihn der Kollege „Werfer“ für beschränkt tauglich erklärte: „Der Herr Reichert hat schon immer Probleme mit den Knöpfen gehabt.“ Es war ja auch als entlastende Aussage gemeint. So mußten die Vertreter der Nebenklage, Temming und Borowsky, den Part des Staatsanwalts übernehmen. Doch sie hatten mit Dutzenden von Augenzeugen zu „kämpfen“, die allesamt viel gesehen haben - das aber immer ein bißchen anders. Auf dem berühmt–berüchtigten „Bild 22“ erkannten alle den allein im Strahl zweier Wasserwerfer laufenden Günter Sare, Sekunden, bevor er von „WaWe 9“ überrollt wurde. Doch die einen haben ihn stolpern und fallen, die anderen in Richtung des großen Wasserwerfers, die nächsten in die entgegengesetzte Richtung laufen sehen, und wieder andere haben beobachtet, daß er „von rechts“ gekommen sei. Niemand hat gesehen, wie er überfahren wurde. Streit um Foto–Prozeß entscheidend Im womöglich prozeßentscheidenden Streit um die Frage, ob die berühmt–berüchtigte Aufnahme des Amateurfotografen wirklich Günter Sare zeige, der zum „Kampf um Zentimeter“ wurde, ließ die Phalanx der Sachverständigen Günter Sare vollends zum Phantom werden. Fotogrammetrische Messungen haben ergeben, daß „die männliche Person“ auf „Bild 22“ nicht mit Günter Sare identisch sei. Zwischen den jeweiligen Körpergrößen bestehe eine Differenz von mehreren Zentimetern. Damit hatte die Abstraktion ihren letzten Triumph über die Wirklichkeit errungen. Die Fotografie zeigt nun angeblich den „großen Unbekannten“, während der reale Günter Sare dann aus dem Nichts gekommen sein müßte. In seinem Plädoyer beharrte Rechtsanwalt Temming darauf, daß das fotogrammetrische Gutachten bei angemessener Unterstellung einer Fehlerquote von fünf Zentimetern eben nicht ausschließe, daß das Foto Günter Sare zeige, den die Angeklagten gesehen haben müßten. Doch auch jenseits dieser Frage sei maßgeblich, daß die beiden Polizeibeamten den mündlichen Einsatzbefehl: „Unterstützen Sie die Kräfte im Kreuzungsbereich“, mißachtet haben und mit 23 Stundenkilometern „wie Django in die Hufnagelstraße gebrettert sind“ (Temming) und damit die „Risikogrenze für den Einsatz eines solchen Wasserwerfers weit überschritten“ hätten. Deshalb forderte er Verurteilung wegen „fahrlässiger Tötung“ für beide Angeklagten. Der Staatsanwalt mochte nur noch bei Kommandant Reichert Fahrlässigkeit erkennen, die mit 2.000 Mark Geldstrafe geahndet werden solle. Obwohl selbst ein Polizeibeamter, ein „Werfer“ von „WaWe 4“, als Zeuge ausgesagt hatte, jene „Person“, die er im Visier seines Wasserstrahls gehabt habe, sei kurz darauf auch von „WaWe 9“ unter Beschuß genommen worden und dann „verschwunden“, plädierte die Verteidigung auf Freispruch für beide Angeklagten: Über den genauen Verlauf habe die Beweisaufnahme „keine Klarheit bringen können“, resümierte Reicherts Verteidiger und schlußfolgerte zugunsten seines Mandanten, Sare sei „hakenschlagend direkt vor den Wasserwerfer gelaufen“ und trage somit „die alleinige Schuld an seinem Tod“. Hilfsweise, falls Günter Sare „doch der Mann im Wasserstrahl gewesen sein sollte“, schickte der Verteidiger noch eine zweite Interpretation des Geschehens hinterher: „Es war nicht die erste Demonstration, an der Günter Sare teilgenommen hat. Wer sich derart gegen einen Wasserstrahl stemmt, der kennt sich aus und weiß, daß das zum Tode führen kann.“ Auch die vorübergehende Sehbehinderung des Kommandanten Reichert, der bislang immer dann Adleraugen bekommen hatte, wenn es um einzelne „Gewalttäter“ ging, die er an der Startbahn West, das sichere Cockpit seines „WaWe 9“ für kurze Zeit verlassend, zuweilen höchstselbst mit dem Polizeiknüppel verfolgte, geht zu Lasten des Toten, der es eben hätte besser wissen müssen. Schon gar keine Rolle für die Urteilsfindung spielten die Äußerungen von Polizisten, die am Abend des 28. September 1985, nachdem Günter Sare blutüberströmt auf der Straße lag, Demonstranten, die sich durch die Kette der Uniformierten zu dem Schwerverletzten vorarbeiteten, zuriefen: „Ihr seid die nächsten !“ Daß der Strafprozeß unter Leitung des Vorsitzenden Richters Bernhard Scheier fair geführt worden ist, attestieren ihm sogar die Anwälte der Nebenklage. Eine Rekonstruktion der wirklichen Ereignisse, gar die Verteilung von „Schuld“ und „Sühne“, konnte er nicht leisten. Reinhard Mohr
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