Eine Chronik der vertanen Zeit

■ Die Aids–Epidemie war kein Schicksal: Die Vorurteile von Wissenschaft, Politik und Medien gegen Schwule haben den Kampf gegen den Virus entscheidend behindert / Randy Shilts Geschichte eines kollektiven Versagens: das Buch „And The Band Plays On“ / 20.000 Amerikaner starben, bevor Reagan Stellung bezog

Aus London Rolf Paasch

„Und die Band spielte weiter“, so lautet der Titel eines der wichtigsten Bücher über die Aids–Epidemie. Randy Shilts, der als Schwuler und als Reporter des San Francisco Chronicle schon zu Beginn der 80er Jahre mit dem Versagen lokaler Aids–Politik und des institutionellen Umgangs mit der Krankheit konfrontiert worden war, schreibt nicht wie so viele vor ihm über die medizinische, sondern über die politische Dimension von Aids; einer Krankheit, so der Autor, deren Ausbreitung hätte entscheidend eingeschränkt werden können, wenn, ja wenn die „Band“ des konservativen Amerikas eben nicht einfach weitergespielt hätte. Shilts beschreibt, wie die Wissenschaftlergemeinde versagt, weil die Forschung an den Ursachen einer vermeintlichen Schwulenkrankheit Medizinern und Virologen nicht das wissenschaftliche Renommee verspricht, das sie zur Förderung ihrer Karriere suchen. Er berichtet, wie die Herausgeber von Washington Post und New York Times erst auf die Seuche anspringen, als diese auch die heterosexuellen Leser erreicht. Die Blutbanken lehnten es aus rein kommerziellen Gründen ab, ihre Bestände auf Viren testen zu lassen. Shilts schreckt auch nicht vor der Kritik an der Schwulengemeinde San Franciscos zurück, wo die Schließung der sogenannten „Badehäuser“, den Zentren des freizügigsten Schwulensex, von einer bestimmten Schwulenfraktion als prüde und „faschistisch“ abgelehnt und damit einer der entscheidenden Augenblicke zur Eindämmung der Epidemie verpaßt wurde. Doch seine schärfste Kritik wiedmet Shilts der politischen Führung des 1980 wiedergeborenen Reagan–Amerikas zurück, das selbst Anfang 1987 noch keine nationale Aids–Kampagne zustande gebracht hatte. Als Ronald Reagan am 31.5.1987 in Washington seine erste Rede zum Thema Aids hielt, waren bereits 20.849 Amerikaner an der Epidemie gestorben. „Er war der Mann“, so Shilts über Reagan, „der Aids in Amerika wüten ließ.“ Shilts–chronologische Reportagetechnik enthebt ihn der Aufgabe, das Beschriebene zu kommentieren. Die auf der Basis von 900 Interviews im semi–dokumentarischen Stil geschilderten Ereignisse erweisen sich im Rückblick auch ohne Kommentar als skandalös. Indem Shilts den franko–kanadischen Flugzeugsteward Gaetan Dugas als „Patienten Nr. Null“ allzu sorglos zum Ausgangspunkt seiner Chronologie wählt, begeht er allerdings einen folgenträchtigen Fehler. Seitdem ist Dugan ein Archetyp schwuler Promiskuität mit unersättlichem und todbringendem sexuellen Appetit und zum gefundenen Fressen für die Medien geworden. „Patient Nr. Null“ steht im Zentrum aller Teilabdrucke, Fernsehsendungen und wahrscheinlich auch der von einer amerikanischen Fernsehstation geplanten „mini series“ über das Aids–Buch. Und auch in der BRD war es absehbar, daß der Spiegel - in Sachen Aids immer für eine vordergründige Sensationsstory zu haben - seine Auszüge aus dem Shilts–Buch damit begann, wie Gaetan Dugas, „eine Schwulenbar betrat“. Shilts hat mit „And The Band Played On“ eine bewegende und wütende Reportage über die ersten fünf Jahre der Aids– Epidemie geschrieben, eine Investigation in die Vorurteile des Reagan–Amerikas. Schade nur, daß er mit der Figur des Gaetan Dugas eine Figur überhöhte, die durch eine (zu erwartende) selektive und unverantwortliche Rezeption des Buches allzu leicht zur erneuten Bestätigung des Vorurteils vom geilen, hedonistischen und rücksichtslosen Homosexuellen als dem Verbreiter der Seuche benutzt werden kann. Dennoch bleibt Shilts 600–Seiten–Werk lesenswert, als eindrucksvolle Chronologie der im Kampf gegen Aids vertanen Zeit. „And The Band Played On: People, Politics And The Aids Epidemic“ by Randy Shilts, Penguin Books, 8.95 Pfund