I N T E R V I E W Flucht in ein abstraktes „Wir“–Gefühl

■ Ulrich Mückenberger, Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg, zu den Vorschlägen Lafontaines

taz: Warum haben die Vorschläge Lafontaines so breite Beachtung gefunden? Mückenberger: Der Vorschlag - so abstrakt und undurchdacht, wie er war - gewann seine Stärke daraus, daß er auf ein strategisches Vakuum trifft. Vogel hat darin schon recht, daß Lafontaine den Skandal der Massenarbeitslosigkeit zu einem Zeitpunkt auf den Tisch gebracht hat, wo alle Rezepte zu ihrer Beseitigung sich verschlissen haben. Nachdem die keynsianische Botschaft schon unter Helmut Schmidt liquidiert worden war, konnte Kohl seine marktradikalen Vorschläge ausprobieren, ebenfalls ohne arbeitsmarktpolitischen Erfolge. Die gewerkschaftlichen Strategien der Arbeitszeitverkürzung mögen Arbeitsplatzabbau vermindert haben, vielleicht auch neue Arbeitsplätze geschaffen haben. Die Hoffnungen aber auf eine stufenlose Einführung der 35–Stunden–Woche, die allein einen Abbau der Massenarbeitslosigkeit versprach, sind ebenfalls gegenstandslos geworden. Alle suchen nach Rezepten. Und in diesem Vakuum kommt ein solcher Vorschlag wie der von Lafontaine gerade recht. Was ist das Spezifische an dem Vorschlag? Lafontaine bietet so etwas wie eine kooperative Krisenlösung an. In seinem Buch „Die Gesellschaft der Zukunft“ taucht eigentlich kein Wort so häufig auf wie „Konsens“. Alle sollen sich an einen Tisch setzen, ihren Teil Verantwortung übernehmen, um des gesell schaftlichen Fortschritts willen Verzicht üben. Die Arbeiter ein bißchen Lohn, die Arbeitgeber Arbeitsplätze, die Politik Beratung und Partizipation. Lafontaine wirbt mit seinen Formulierungen um Gruppierungen und Bündnispartner, die in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten der sozialdemokratischen Hegemonie verlorengegangen sind und die zurückgewonnen werden könnten. Den Grünen z.B. winkt er mit ökologischer Verantwortung, Grundsicherung und Umwertung des Arbeitsbegriffes, den Liberalen mit einem strikten Bekenntnis zur Marktwirtschaft, den Christen mit einer neuen Verantwortungsethik, den Frauen mit Quotierungszusagen. Diese Ausleger nach links und nach rechts sind genau komplementär zu denen, die Geißler und Süssmuth seitens der Konservativen derzeit probieren. Es ist ein Kampf um die Mitte jenseits der Stammwählerschaft. Können die Vorschläge Lafontaines eigentlich funktionieren? Lafontaine hat weder durchdacht, auf welche Sektoren sein Vorschlag überhaupt zielt, mit welchen Instrumenten er durchsetzbar wäre, was aus dem durch Gehaltsverzicht eingesparten Geld werden soll und wer wie die neuen Arbeitsplätze garantiert. Das wirkt alles sehr abstrakt, fast dillettantisch. Und die Abstraktheit dieses Vorschlags hat es im Grunde allen gesellschaftlichen Kräften leichtgemacht, ihm entweder folgenlos zuzustimmen oder ihn ebenso folgenlos abzulehnen. Der eine hört Lohnverzicht, der andere hört Arbeitszeitverkürzung raus, der dritte Umverteilung, der vierte Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und klatscht oder buht dazu je nach Gusto. Das ist mehr symbolische Politik als Realpolitiik. Also eine Lafontaine–PR–Kampagne? Mein Eindruck ist, wenn nicht noch entscheidende Konkretisierungen folgen, dann scheitert Lafontaines Perspektive einfach an ihrer fehlenden analytischen und strategischen Klarkeit. Bis auf das Frauenkapitel ist das Buch von Lafontaine erschreckend analyse– und theorielos. Er unterscheidet z.B. nicht zwischen Konflikten, die durch Konsens, und solchen, die nur durch Machtauseinandersetzungen zu lösen sind. Er flieht in ein abstraktes „Wir“–Gefühl. Und damit überspringt er die Hürden gesellschftlicher Macht– und Herrschaftsstrukturen. Leider gibt es die aber wirklich. Nach dem Motto: Ich kenne keine Einzelinteressen mehr, ich kenne nur noch Deutsche...? So ähnlich kommt mir dieses Konzept vor. Lafontaine als zukünftiger deutscher Ersatzkaiser? Wenn es schon nicht Weizsäcker ist... Interview: Martin Kempe