: Nullösung
■ Für die Arbeitslosen bringt der ÖTV–Abschluß nichts
Die Große Tarifkommission der ÖTV hat den Kompromiß von Stuttgart gebilligt. Die Arbeitgeber freuen sich, weil die ausgehandelten Lohnsteigerungen für die nächsten drei Jahre geringer als kalkuliert sein dürften. Beide meinen dasselbe und sind aus unterschiedlichen Gründen zufrieden. Bei soviel Eintracht liegt der Verdacht nahe, daß ihr Kompromiß auf Kosten Dritter zustandegekommen ist. Die ÖTV konnte nicht hoffen, in diesem Jahr mehr Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen als die Industriegewerkschaften Metall und Druck 1984 in monatelangem Arbeitskampf. Alle darüberhinaus gehenden Hoffnungen leben aus ihrer Ignoranz gegenüber den Machtverhältnissen zwischen den Tarifparteien. Der vorliegende Abschluß bleibt hinter dem 1984 erkämpften und 1987 bestätigten Standard der gewerblichen Wirtschaft zurück: Eineinhalb Stunden, in zwei Stufen mit einer Laufzeit von vier Jahren - das ist zuwenig, um den Arbeitsmarkt zu entlasten, aber es ist zuviel, um mit einer höheren Forderung noch glaubwürdig die Mitglieder zu mobilisieren. Die 100.000 neuen Arbeitsplätze, die die ÖTV–Vorsitzende Wulf–Mathies sich von diesem Tarifabschluß verspricht, kann sie sich abschminken - und das weiß sie auch. Ohnehin gibt es nur in jenen Bereichen eine Notwendigkeit, Arbeitzeitverkürzung durch Neueinstellungen zu kompensieren, wo die zu erbringende Arbeitsleistung nach Umfang und Zeit feststeht: bei der Müllabfuhr etwa oder in den Krankenhäusern. In den Büros dagegen dürfte der Arbeitsmarkteffekt gleich null sein. Die Behauptung, die Umverteilung von Arbeitszeitverkürzung sei im Öffentlichen Dienst genauso groß wie im gewerblichen Bereich, ist nicht zu halten und wird durch Wiederholung nicht glaubwürdiger. Wie auch immer man zu Lafontaines Intervention in der Tarifbewegung steht, in einem hat er recht: Ohne verbindliche Einstellungsgarantien der Arbeitgeber bleibt die Strategie der Arbeitszeitverkürzung besonders im Öffentlichen Dienst eine stumpfe Waffe im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Natürlich ist den Staatsbeschäftigten zu gönnen, daß auch sie ein nun bißchen weniger arbeiten müssen. Sie haben dies mit geringeren Lohnzuwächsen bezahlt. Aber für die Arbeitslosen hat diese Tarifauseinandersetzung nichts gebracht. Martin Kempe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen