: „Zhou Gucheng ist 89, er sollte Pause machen!“
■ Chinas Volkskongreß überrascht mit öffentlicher Kritik / Erstmals geheime Abstimmung bei den Wahlen / Hohe Preissteigerung zwingt zum Handeln / Unmut über Ungleichgewichte in der Entwicklung der Regionen: Für Tibet nur Härte - kein Geld /
Von Jürgen Kremb
Berlin (taz) - „China scheint zum Jahr 1986 zurückgekehrt“, faßte dieser Tage ein westlicher Diplomat die Stimmung in Beijing zusammen. Das bedeutet keinen Rückfall in alte Zeiten, sondern ein Aufatmen für Intellektuelle und kritische Freigeister. Niemand spricht mehr vom „Kampf gegen bürgerlichen Liberalismus und Verwestlichung“, mit dem noch vor zehn Monaten in den Medien zur Hatz auf kritische Schreiber geblasen wurde. Diesem neuerlichen Stimmungsumschwung können sich auch die knapp 3.000 Delegierten auf der ersten Sitzung des siebten Nationalen Volkskongresses (NVK) nicht entziehen. Die Mitglieder des gesetzgebenden Organs haben sich seit dem vergangenen Freitag für drei Wochen in der Großen Halle des Volkes versammelt und überraschten dieser Tage erstmals in der Parlamentsgeschichte der Volksrepublik durch öffentlich vorgetragene Kritik. „Zhou Gucheng ist 89, er sollte Pause machen“, mäkelte der Abgeordnete Shunken vor laufenden Fernsehkameras darüber, daß der altersschwache NVK–Vizepräsident nun auch noch Vorsitzender des Ausschusses für Erziehung und Gesundheit werden solle. „Auch sonst achtet die Führung doch auf Verjüngung.“ Nach Ansicht westlicher Diplomaten versucht die chinesische Führung, mit diesen Kritikübungen das Image des Parlaments aufzupolieren. Bei wichtigen Entscheidungen wäre es allerdings noch viel schwieriger, wirklich konträre Meinungen zu äußern. Es sei deshalb nicht auszuschließen, daß die chinesische Führung die Widersprüche organisiert habe. Vieles spricht dafür. In der amtlichen Volkszeitung wurden in der letzten Woche in Kommentaren westliche Berichte kritisiert, die den Volkskongreß als bloßes Instrument der Zustimmung zur KP–Politik bezeichneten. Wenige Tage später war dort zu lesen: „Der Kongreß zieht die Interessen der Bevölkerung auf sich, weil eine so freie Haltung noch nicht gesehen worden ist.“ Das tut er aber wohl nur, weil die Chinesen von ihm eine Entscheidung zur Begrenzung der mittlerweile galoppierenden Inflation erwarten. Nach unterschiedlichen Quellen lag der Anstieg des Preisindex (dessen Zusammensetzung unbekannt ist) bei knapp zehn Prozent. (Rein rechnerisch deckt sich das mit dem Lohnanstieg in gleicher Höhe. Doch die Konsumenten im Entwicklungsland China geben noch immer mehr als die Hälfte ihres Lohnes nur für Lebensmittel aus. Der staatlich errechnete Waren korb wird damit zur Farce.) Selbst die staatliche Nachrichten–Agentur Xinhua (Neues China) überraschte dieser Tage mit der Geschichte einer Soldatenfamilie, deren Lebensstandard sich in den letzten Jahren trotz Wirtschaftsreform verschlechtert habe. Der KPCh ist wohl klar, daß aus der Lohn–Preisspirale ein sozialer Zündfunke entspringen könnte. Premier Li Peng (59), der das Amt seit dem 13. Parteitag im Herbst vom jetzigen Parteivorsitzenden Zhao Ziyang übernommen hat, nannte in seinem Jahresbericht am vergangenen Freitag vor den 3.000 Delegierten die Inflationsbekämpfung als Hauptziel der Politik für 1988. Dennoch soll damit nicht wieder auf die Fehler der letzten Jahre verfallen werden. Obwohl Li Peng - als Adoptivsohn des früheren Ministerpräsidenten Zhou Enlai - als Befürworter einer sowjetischen und eher planorientierten Ökonomie und als Garant der alten konserva tiven Garde in Chinas Parteispitze gilt, trägt sein Programm eindeutig noch die Handschrift von KP– Boß Zhao Ziyang. Es wird also nicht mehr gebremst, sondern in der Ökonomie noch mehr durchgestartet. Wie Li bekanntgab, soll die tropische Insel Hainan im südchinesischen Meer Provinzstatus erhalten und gleichzeitig zu Chinas größter Wirtschaftssonderzone ausgebaut werden. Dort will die KP Taiwans Aufstieg zur Industrienation kopieren. Ein Unternehmensgesetz soll ferner den Managern in staatlichen Industriebetrieben verankerte Rechte zur Selbstverwaltung garantieren. Bisher lag das in den Händen von politischen Kommissaren. In den letzten drei Jahren war die Gesetzesnovelle 13mal verschoben worden, bis die KP ihren Machtverlust in den Betrieben absegnete. Außerdem werden die Delegierten einem Umbau des staatlichen Apparates zustimmen. Ins gesamt 14 Ministerien werden umgebaut, abgeschafft und gestrafft. 10.000 Kader müssen sich deshalb auf einen neuen Arbeitsplatz gefaßt machen. Doch arbeitslos wird keiner, denn zehn neue Ministerien entstehen wieder. Als Motor für die Modernisierungspolitik sieht die Führung in erster Linie die Küstenregionen vor. Dorthin werden auch in den nächsten Jahren vorwiegend ausländische Investitionen gelenkt - sehr zum Unbehagen des Regierungschefs der Autonomen Region Tibet, Doje Cering. Er kritisierte, daß damit der Unterschied zwischen den verarmten Regionen der Minderheiten und den reichen Ostprovinzen noch mehr vergrößert werde. Zu Tibet hatte Li Peng in seinem Rechenschaftsbericht bekundet, die Führung wolle angesichts der Unruhen „einer kleinen Anzahl von Separatisten“ Härte zeigen. Allein im März waren in der entlegenen Provinz bei Demonstrationen schätzungsweise 2.000 Einheimische inhaftiert worden. Alle personellen Veränderungen, die beim NVK zu beschließen sind, hat die KPCh wie üblich schon Wochen oder gar Monate vorher hinter den Kulissen ausgetuschelt. Die erstmals beschlossene geheime Abstimmung wird daran nichts ändern. Yang Shangkun (85) wird als Gefolgsmann von Chinas starkem Mann Deng Xiaoping den bisherigen Staatschef Li Xiannian ablösen. Der konservative Parlaments–Präsident Peng Zhen (85) wird von Vize–Premier Wan Li (71) ersetzt. Chinas Sacharow, der Physiker Fang Lizhi, der im letzten Jahr seinen Job als Uni–Vize–Direktor in Hefei verloren hatte, warnte angesichts dessen auch vor zuviel Vertrauen in Chinas wirtschaftliche und politische Umgestaltung. Zur New York Times meinte er: „An der Oberfläche gibt es wieder mehr Toleranz, doch nicht in Wirklichkeit.“
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