piwik no script img

Vom Lob lauten Denkens

■ Die FDJ–Zeitung Junge Welt zwischen harter Linie und Reformkurs - wie die Freie Deutsche Jugend auch

Seit dem 17. Januar, dem Tag der Rosa–Luxemburg–Demonstration, urteilen DDR–Intellektuelle gehässig über die Hauspostille der FDJ, die Junge Welt. „Unser Stürmer“ wird sie genannt. Mit allzuscharfer Zunge ist das Blatt damals über Andersdenkende hergefallen. Sogenannte „Mahnwächter“, Schriftsteller, die der Westen erst zu welchen mache, und Faschisten wurden in einen Topf geworfen, „unsere Rosa“ wurde kampfstark verteidigt und Krawczyk verteufelt, wie sichs gehört. Der Höhepunkt auf der Titelseite (ein Lied von Gerd Kern): „...als hätten nicht in den Januartagen Andersdenkende Karl und Rosa erschlagen“. Und weiter: „Es muß andersdenken, wer auf neue Art denkt, doch wer sich das Wort wie nen Mantel umhängt, um darunter die alte Spaltung zu treiben, steht dem Neuen im Weg, der wird nicht bleiben.“ Staatsbürgerfeindliche Hetze? Doch das Kampfblatt Junge Welt zeigt auch andere Gesichter. Soziale Wahrheit ist wieder zum Thema geworden, auch in der DDR. Letzte Woche ein Interview zum Thema „Jugendhilfe in der DDR“, der 48.000 ehrenamtliche Mitarbeiter angehören. Sie betreut elternlose und aus der Familie gelöste Kinder. Auch die Auseinandersetzung mit Alkoholismus und Jugendkriminalität findet immer häufiger einen Platz. Das rituelle Aufrütteln zum FDJ–Aufgebot für den 40. Jahrestag der DDR 1989 dominiert zwar mit reichlich Schönwetterparolen, es mehren sich aber auch kleine Denkanstöße. Und zweideutige Formulierungen: „Vom Lob lauten Denkens - die Theatertage der Jugend in Ost–Berlin“ stand vergangenen Montag auf dem Titel blatt. Und im Innenteil von Ausgaben der letzten drei Wochen: Schülerdiskussionen. Auch über das Autoritätsgehabe von Jungfunktionären oder dem Lehrer am Pult. „Kritik tut weh“, aber „offen und ehrlich müssen wir künftig immer miteinander reden“, heißt die Quintessenz einer Debatte von Achtklässlern mit ihrer FDJ–Sek retärin, deren „Ton“ der Klasse ganz und gar nicht behagt hatte. Tage später in der Junge Welt Auszüge aus einer Neuntklässlerdiskussion. Das Thema: Staatsbürgerkunde. „Stefan: Es liegt an uns, wenn in Staatsbürgerkunde die Disziplin schlecht ist. Aber auch an Herrn Fischer. Nur Seitenzahlen aus dem Lehrbuch. Warum geht er fast gar nicht auf Schülerfragen ein? - Annett: Zensuren für eine Meinung finde ich nicht richtig. - Arne: Wie er den Unterricht gestaltet, ist Sache des Lehrers. Ich habe mich mit meiner Mutter unterhalten, die ist auch Lehrerin. - Andre: Vielleicht erklären wir mal, wie wir uns ein aktuell–politisches Gespräch vorstellen ...“ Auch das Jugendfernsehen hat sein Herz für laute Denker entdeckt. In einer Magazinsendung namens „Hautnah“ diskutierten vor vier Wochen selbstbewußte Jugendliche ihre Träume und Ideale. Sozialistische Ideale wurden keine genannt. Eher materiell waren die Wünsche - nach dem Einfamilienhaus - und: „nach ungestörter Kommunikation in jeder Richtung, ob nun Ost, West, Nord oder Süd“, so formulierte es ein Baubrigadier. Ein DEFA– Film–ausschnitt aus der Neuproduktion „Vorspiel“ brachte dann den Wunsch nach Selbstverwirklichung auf den Punkt. Ein junges Mädchen will eigene Wege gehen: „Keiner kann mich zwingen, irgend ne andere Sache zu machen als die, die mir Spaß macht, keiner!“ In der Kulturzeitung Sonntag beschreibt jüngst ein Konzertkritiker den Konflikt aus der Elternperspektive: „Wir sind in einem schwierigen Alter. Unsere Jugendlichen verstehen uns nicht.“ Vorsicht, bissige Kinder.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen