: D O K U M E N T A T I O N Die sogenannte Stunde Null hat es nie gegeben
■ Ein neuer Text von Ingrid Strobl: Über Kontinuität des Nationalsozialismus und patriarchalischen Imperialismus
Einem Richter, der im NS–Regime Widerständler verurteilte, „kann heute in strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden“. Mit dieser Erklärung sprach der Bundesgerichtshof 1956 den Chefrichter beim NS– und Polizei–Gericht München, Otto Sack, frei. Aber es kommt noch besser. Im Fall des Beisitzers beim Volksgerichtshof, Kammergerichtsrat Hans–Joachim Rehse, der mindestens 231 Todesurteile unterschrieben hatte, beschloß der BGH 1968: „Als Mitglied eines Kollegialgerichtes war der Angeklagte nach dem auch damals geltenden Recht unabhängig, gleichberechtigt, nur dem Gesetz unterworfen und seinem Gewissen verantwortlich.“ Rehse wurde daraufhin freigesprochen. Damit wurde 23 Jahre nach der sogenannten „Stunde Null“ Freislers Mordmaschine zu einem unabhängig rechtsprechenden Gericht erklärt. Vom Bundesgerichtshof der „Rechtsnachfolgerin“ des NS– Staates, BRD. Dem Bundesgerichtshof wurde auch ich, am 20.12.87, in Handschellen vorgeführt. Seither sitze ich in der JVA München–Neudeck in Isolationshaft. „Sie schreiben doch ein Buch über den Nationalsozialismus“, fragten mich die BKA–Beamten auf dem Transport nach Karlsruhe: „Sehen Sie denn Parallelen zwischen damals und heute?“ Die sogenannte „Stunde Null“ hat es nie gegeben. Der Befreiung folgte sofort der Wiederaufbau des neuen Staates Bundesrepublik. Mit von der Partei - und zwar an entscheidender Stelle - waren die Herren, die sich schon um den Nationalsozialismus eifrig verdient gemacht hatten: Als Juristen, Ärzte, Wissenschaftler, Wirtschafts“führer“ usw. Von Globke bis Filbinger zu all denen, deren Namen nicht so bekannt sind. Von Flick, Thyssen und Schleyer ganz zu schweigen ... Dank US–amerikanischer Aufbauhilfe hat sich die BRD zu einem starken imperialistischen Staat gemausert. Die Herren, die einst Hitler finanzierten und dann die verschleppten „OstarbeiterInnen“ und die Arbeitskommandos in den KZs für sich zu Tode arbeiten ließen, führen heute ihren Profitkrieg gegen die Menschen in der sogenannten „Dritten Welt“. Ein besonders „delikates“ Beispiel ist die Firma Degesch in Frankfurt, die das Zyklon B für die Gaskammern herstellte. Heute exportiert diese Unkraut– und Insekten– (bzw. Ratten–)Vertilgungsmittel nach Südostasien. Degesch hieß damals - und heißt heute noch immer: „Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung“. Mit den Ratten werden auch heute wieder die anderen „Schädlinge“ vertilgt: Die Menschen in den Ländern der drei Kontinente (Asien, Afrika, Süd/Mittel–Amerika), die sich einbilden, auch sie hätten ein Recht auf Leben. Das haben sie jedoch nur, wenn sie gerade dafür gebraucht werden, als billige Arbeitstiere vernutzt zu werden, die Ernte in den Giftschwaden der Firmen Degesch, Bayer, Hoechst und Co. einzubringen, als Sexsklavinnen für den weißen Mann zu dienen, als weibliche Prügel– und Aggressionsobjekte die Wut ihrer unterdrückten Männer auf sich abzulenken ... Im September 1986 legten Neonazis im Keller eines von Ausländern bewohnten Hauses Feuer. Sie wollten die Brut ausräuchern. Im März 1988 wurden zwei dieser Patrioten wegen Beihilfe zur schweren Brandstiftung zu 18 und neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Von der Bildung oder Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung“ war nie die Rede. Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung“ wird Ulla Penselin, mir und vier Leuten, die angeblich „flüchtig“ sein sollen, vorgeworfen. Nicht, weil wir beschuldigt werden, wir wollten ausländische Menschen bei lebendigem Leib verbrennen. Das wäre ja kein „Terrorismus“. Sondern, - in meinem Fall -, weil ich bei einem Anschlag auf das Hauptgebäude der Deutschen Lufthansa beteiligt gewesen sein soll. (Die revolutionären Zellen hatten diesen Anschlag mit der Beteiligung der Lufthansa an der Abschiebung von Flüchtlingen und am Sextourismus– Geschäft begründet.) „Beweise“ für diese Mitgliedschaft? Ich bin der Meinung, daß die Kontinuität des Faschismus, die immer schärfer werdende Versklavung von Frauen, die Politik, die die „Erste“ gegen die Flüchtlinge aus der „Dritten“ Welt betreibt, der mörderische patriarchalische Imperialismus überhaupt energisch bekämpft werden müssen. Und ich leiste mir die Frechheit, das laut auszusprechen. Ich werde mir erlauben, das auch weiterhin laut zu sagen. Auch auf die Gefahr hin, daß dann bei der Bundesanwaltschaft alle Wecker klingeln. Ingrid Strobl, 6.3.88
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen