piwik no script img

„Anschläge“ - eine Broschüre

■ In diesen Tagen erscheinen Texte von Ingrid Strobl und Ulla Penselin

Eine Verhaftung bewirkt, neben vielem anderen: Die Verhafteten werden aus dem Verkehr gezogen, sie verschwinden aus dem privaten und politischen Alltag, wer vorher durch aktuelle Arbeit wirken konnte, bleibt plötzlich bestenfalls noch in Erinnerung. Bei politischen Verfahren ist das, wenn nicht der Zweck der Aktion, so doch zumindest eine hochwillkommene Begleiterscheinung. Ihr entgegenzuarbeiten, gelingt selten so gut wie jetzt im Fall von Ursula Penselin und Ingrid Strobl. „Anschlag“ heißt die knallrote, gerade erschienene Broschüre, die die Arbeiten und politischen Ideen der beiden am 18.und 20.Dezember verhafteten Frauen veröffentlicht - und das heißt eben nicht bloß „gedruckt vorlegt“. Mehr als zweihundert Buchläden, Gruppen und Einzel personen haben das Projekt, das auch Solidaritätsaktionen und die Aktivitäten der Bundesanwaltschaft ausführlich dokumentiert, durch finanzielle und andere Hilfe ermöglicht. Der Terrorismus– Vorwurf wirkt zwar noch in diesem Land - aber nicht überall, mancherorts immer weniger. Von den „JungsozialistInnen Hamburg“ über den „Bundesvorstand der Grünen“, vom Buchladen „Schwarze Risse“ Westberlin bis zur Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Arbeitskreise hat sich diesmal ein breites Spektrum zusammengefunden: UnterstützerInnen und SymapthisantInnen. „Was sind das für Zeiten? Es ist Winter“ lautet die Überschrift zu einem Artikel in der Broschüre - aber die Bäume schlagen trotzdem aus, wäre erfreut zu ergänzen. Es wird nicht mehr so laut geschwiegen. Nicht mehr immer - oft aber doch noch: Die Broschüre– Gruppe erinnert auch an die „alten Gefangenen“: „Viele schweben in Lebensgefahr, einige sind seit über zehn Jahren in Isolationshaft, viele sind vergessen... Es ist nicht unsere Absicht, das zu verschweigen.“ „Texte zu Gentechnologie, Frauenbewegung, Faschismus und Bevölkerungspolitik“ - der Untertitel der über achtzig Seiten umfassenden Broschüre ist mehr als nur eine Ansammlung von Themen. Der Schwerpunkt der von Ulla Penselin ausgesuchten Texte liegt auf pränataler Diagnostik heute, der Sterilisation Behinderter und der Entwicklung sozialdarwinstischen Gedankenguts. Die dort nachgezeichneten und kritisierten Entwicklungen sind brisant, weil sie ohne das Zutun sogenannter fortschrittlicher Bewegungen kaum durchsetzbar sind. Die medizinischen und politischen Wegbereiter der pränatalen Diagnostik argumentieren oft wie die Paragraph 218–GegnerInnen mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau - und noch längst nicht alle Feministinnen akzeptieren den Unterschied zwischen der Entscheidung für oder gegen ein Kind und der selektiven Abtreibung eines möglicherweise behinderten Fetus.Welche erschreckenden Koalitionen Feminismus und Rassismus eingehen können, belegt am Beispiel der US–amerikanischen Frauenrechtlerin Margret Sanger der Artikel „Die Guten ins Töpfchen ...“: Margret Sanger, die noch beim „Dinner– Party“–Projekt geehrt worden ist, hatte sich darauf eingelassen, ihren Kampf für Geburtenkontrolle eng mit der eugenischen Argumentation zu verknüpfen: „Mehr Kinder von den Tüchtigen - weniger von den Minderwertigen“, formulierte sie 1919 das politische Anliegen der Geburtenkontrollbewegung. Daß Frausein allein kein Programm ist, ist das Thema, mit dem sich etliche der abgedruckten Aufsätze von Ingrid Strobl auseinandersetzen. Eindringlich wirkt vor allem ihr Artikel über „Die nette alte Dame“ - Dr.Ruth Kellermann, die 1985 im Hamburger Frauenbildungszentrum als Feministin auftrat, über „Frauenarbeit im Schatten“ referieren sollte und von der Sinta Geovana Steinbach dabei als Rassehygienikerin, die im KZ Ravensbrück gearbeitet hat, enttarnt wurde. Am Beispiel des grünen Müttermanifests entwickelt Ingrid Strobl eine Kritik an den moderneren Varianten einer nichtemanzipatorischen Frauenpolitik, die ein Kapitulationsangebot an die Profiteure der herrschenden Verhältnisse sei. In ihrer Würdigung der „Roten Rosa“ Luxemburg argumentiert sie jedoch auch gegen die „sonst so klarsichtige radikale Marxistin“, die „In Sachen Frauen ...offenbar dem kapitalistischen Märchen vom Tellerwäscher aufsaß, der - wenn er nur wolle und sich anstrenge - Millionär werden könne....was der Imperialismus mit dem Patriarchat zu tun hat, das sah sie nicht.“ In dem Rosa Luxemburg Artikel steht auch ein Satz, den die Sozialistin aus polnischer Haft an ihre GenossInnen aus Angst vor einem Gnadengesuch, das die Partei gegen ihren Willen stellen könnte, geschrieben hat: „Ein sitzender Mensch wird nicht bloß von der Obrigkeit, sondern auch von den eigenen Freunden sofort entmündigt und ohne Rücksicht auf seine Meinung behandelt!“ Die Broschüre, deren Konzeption zusammen mit Ursula und Ingrid erarbeitet worden ist, ist ein wichtiger Versuch, dieser Gefahr zu entgehen... Anschlag auf die Schere am Gen und die Schere im Kopf - Texte zu Gentechnologie, Frauenbewegung, Faschismus und Bevölkerungspolitik, ausgesucht von Ulla Penselin und Ingrid Strobl, ISBN 3–922144–75–6, 84 Seiten, 7 DM (davon werden 4 DM zur Finanzierung von Anwaltskosten und Öffentlichkeitsarbeit verwandt) . Erhältlich im linken und im Frauenbuchhandel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen