: Jackson Action statt Reagonomics
■ Der Vorwahlkampf der US–Demokatie ist in New York angekommen / Kampagne Jacksons gegen Armut und ökonomische Gewalt / Mißtrauen bei den jüdischen Wählern
Aus New York Stefan Schaaf
Der jungen Frau steht die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben: „Wie bitte?! Jesse spricht in einem anderen Raum? Wir bekommen ihn nur auf einer Video–Leinwand zu sehen? Und dafür stehe ich hier zwei Stunden in der Kälte?“ Sie ist nicht die einzige, die an diesem Aprilabend geduldig in der schier endlosen Schlange vor dem Eingang Long Island University in Brooklyn ausgeharrt. Alle wollen Jesse sehen, Jesse hören, Jesse zujubeln. Zuviele für das Fassungsvermögen der Universitätssporthalle - 1.500 Menschen bleiben an diesem Abend vor den Toren. „Er kommt, er kommt!“ ruft jemand, als sich der grell angestrahlte Troß bereits die Straße herabschiebt, begleitet von Rufen: „Win Jesse win!“ Umgeben von einem Spalier panisch dreinschauender Sicherheitsbeamter streckt Jacksons Arm sich nach den Händen der Menge, bevor er im Eingang des Auditoriums verschwindet. Wo immer der schwarze Politiker in den letzten Tagen in New York auftauchte, zog er Tausende von Fans an, ob in Harlem, in Brooklyn oder vor den Fabriktoren in Tarrytown. Der Vorwahlkampf um die hartumkämpfte Präsidentschaftsnominierung der Demokratischen Partei hat mit New York den zweitgrößten US– Bundesstaat erreicht. Ein dicker Batzen Delegierter für den Parteitag im Juli steht hier ebenso zur Disposition wie das Prestige, in der wichtigsten US–Metropole, in New York City, den Sieg davongetragen zu haben. Am nächsten Tag macht Jackson der Gewerkschaftsbewegung New Yorks seine Aufwartung: In einem gigantischen, ultramodernen Kongreßzentrum am Ufer des Hudson wird er von mehreren tausend Beschäftigten gefeiert - von Krankenschwestern, „Greyhound“–Busfahrern, städtischen Angestellten. Ein Vertreter der Teamsters macht klar, daß seine Wahl nichts mit der Hautfarbe zu tun hat: „Jackson ist ein demokratischer Kandidat, der auch schwarz ist, aber er ist vor allem unser Kandidat!“ Armut und „wirtschaftliche Gewalt“ in den USA - neben dem Drogenproblem Jacksons Hauptthema - machen keinen Unterschied in der Hautfarbe. „Die meisten Armen in diesem Land sind nicht schwarz oder braun“, predigt der Kandidat, „es sind weiße junge Frauen.“ Jackson will eine nationale Krankenversicherung nach europäischem Vorbild schaffen. Wer ihm vorhält, seine Pläne seien nicht bezahlbar, bekommt zur Antwort, daß mit Investitionen für Schulen, Stipendien und Gesundheitsfürsorge wesentlich größere Ausgaben für Arbeitslose, Sozialfürsorge und Knäste gespart werden können. „Wir müssen in die Vorderseite des Lebens investieren, nicht in die Rückseite. Jackson Action statt Reaganomics!“ Jacksons Anhänger glauben an die Chance, New York gewinnen zu können, doch Meinungsumfragen geben Michael Dukakis bisher einen deutlichen Vorsprung. Jacksons größte Stärke ist gleichzeitig seine größte Schwäche: Er ist ein unkonventioneller Politiker und kann deswegen und dank seiner rhetorischen Kraft Menschen in den Wahlkampf einbeziehen, die sonst nie zur Wahl gehen würden. Gleichzeitig werfen ihm viele vor, politisch zu unerfahren zu sein und mehr mit Worten als mit Taten zu glänzen. New Yorks Wählerschaft ist ethnisch und politisch ungleich vielschichtiger als die der bisherigen Vorwahlstaaten, vor allem führt in New Yorks demokratischer Partei kein Weg an den jüdischen WählerInnen vorbei. Die haben Jacksons Wahlkampagne des Jahres 1984, als er die jüdischen Stimmbürger gegenüber einem Reporter mit einem abfälligen Begriff bedacht hatte, noch nicht vergessen. Jacksons Wahlkampfchef erinnerte bei einer Diskussion über „Jesse Jackson und die Juden“ an die lange und erfolgreiche Allianz von amerikanischen Juden und Schwarzen in der Bürgerrechts– und Gewerkschaftsbewegung. Doch es ist vor allem Jacksons Haltung zum Nahostkonflikt, die ihn Sympathien in der jüdischen Wählerschaft gekostet hat. Noch immer wird ihm vorgehalten, daß er vor neun Jahren Yassir Arafat umarmte, und seine heutige Forderung, daß es neben „Sicherheit für Israel“ auch „Gerechtigkeit für das palästinensische Volk und Frieden für beide Seiten“ geben müsse, bringt ihm keine Freunde ein. New Yorks prominentester jüdischer Einwohner, Bürgermeister Ed Koch, nahm denn auch, wie üblich, kein Blatt vor den Mund: Ein Jude, der für Jackson stimme, müsse „verrückt“ sein.
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