Die Augenbinde der Justitia

■ Fünf philosophische Überlegungen anläßlich des Prozesses gegen Robert Jungk / Von Günther Anders

I. Robert Jungk und ich sind seit Jahrzehnten enge Bundesgenossen gewesen, und durch die Gemeinsamkeit des Zieles sind wir das natürlich auch heute noch. In der Beurteilung der erforderlichen Methoden, mit denen die atomare Weltgefährdung bekämpft werden darf oder bekämpft zu werden verlangt, sind wir nicht einer Meinung - er sowohl wie ich haben unsere Positionen unmißverständlich dargelegt. Da er, im Unterschied zu mir, ein bedingungsloser Vertreter und Verteidiger der Gewaltlosigkeit ist, würde es auf einen Irrtum, wenn nicht vielleicht sogar auf gespielte Ignoranz herauslaufen, wenn man ihm dasjenige als unmoralisch vorwerfen würde, was allein mir vorgeworfen werden dürfte. Sofern „vorwerfen“ und „dürfen“ die hier treffenden Ausdrücke sind. Denn meinen Einsatz für eine unter Umständen Gewalt nicht ausschließende „Notwehr gegen den Notstand“ betrachte ich natürlich nicht als etwas Unmoralisches, sondern umgekehrt als etwas moralisch Gebotenes. Wie dem auch sei, es wäre eine Justizblamage, wenn man Robert Jungk für Parolen oder Argumente zur Rechenschaft ziehen oder gar bestrafen würde, die von ihm (und gewiß ebenfalls aus moralischen Gründen) aus drücklich abgelehnt, von mir dagegen bejaht werden. II. Nun könnte man mir vielleicht vorschlagen oder es mir sogar als meine Freundespflicht nahelegen, mich zusammen mit ihm oder an seiner statt dem Tribunal zu stellen. Das kommt für mich aber nicht in Frage. Und nicht etwa nur deshalb nicht, weil ich als Fünfundachtzigjähriger bewegungsunfähig geworden bin; sondern auch deshalb nicht, weil ich mich weigere, Gerichte als für solche Fälle kompetent anzuerkennen, also mit Juristen über Moralprobleme, die, wie indirekt auch immer, etwas mit der Möglichkeit des nuklearen Unterganges zu tun haben, zu diskutieren, gar diesbezügliche Entscheidungen von Juristen ernstzunehmen. Das schiene mir der Inbegriff philosophischen Unernstes. Seit Sokrates wissen wir schließlich: Nicht mit jedermann kann oder soll oder darf man über alles sprechen. Begründung: Juristisches Denken besteht ausnahmslos, wenn nicht sogar grundsätzlich, darin, aktuelle Handlungen daraufhin zu prüfen, welcher (bereits bekannten) Gattung oder welchem Typ von vergangenen Handlungen sie zugehören; und darin, die Entscheidungen über die Individualfälle beziehungsweise über das angemessene Strafmaß von ihrer Zugehörigkeit zum Tat–Typus, also von einer Subsumption, abhängig zu machen. Da dem so ist, da die Tätigkeit der Juristen nun einmal im Vergleichen, Klassifizieren und Subsumieren besteht oder auf solchem beruht, dürfen sie Taten oder Geschehnisse, die total neuartig sind, als total neuartig, das heißt als unsubsumierbar, nicht anerkennen. Und was sie nicht dürfen, das können sie dann bald auch nicht mehr. Es ist gewiß kein Zufall, daß sich unter den Wortführern der Anti–Atom–Bewegung kaum Juristen finden. Denn Heutiges messen Juristen eben stets am Gestrigen. Aus diesem Grunde sind oder werden so viele von ihnen - wofür sie persönlich kaum etwas können - konservativ. Das trifft auch auf diejenigen unter ihnen zu, die als Privatpersonen menschenfreundlich oder tolerant oder, wie man so sagt: „Neuem aufgeschlossen“ sein mögen. „Als Privatpersonen“ - wenn ich dieses Wörtchen als nur höre! Nun, mit dieser ihrer, von ihnen selbstverständlich anerkannten Regel, Heutiges mit Gestrigem zu vergleichen und Heutiges mit Maßstäben von gestern abzumessen - mit dieser Regel ist es nun aus, mit der hat es nun jedenfalls aus zu sein. Und das, wie gesagt, nicht aufgrund eines Verschuldens der Juristen, sondern aufgrund der monströsen Entwicklung, der monströsen Neuartigkeit, der Technik, deren unabsehbare Konsequenzen vorauszusehen und zu durchschauen sie ebenso unfähig sind wie 99 Prozent aller Mitmenschen, der Schuldigen wie der Unschuldigen. In anderen Worten: Die Juristenregel der Subsumption ist deshalb sinnlos und unbefolgbar geworden, weil die entscheidenden heutigen Tatsachen, Handlungen und Leiden nie zuvor dagewesen, damit unvergleichbar und unsubsumierbar sind. Die Möglichkeit der totalen Menschheitsauslöschung, die sowohl durch die militärische wie durch die zivile Nukleartechnik eingetreten ist, die hatte in den guten alten Zeiten vor dem Jahre Null, das heißt vor 1945, niemals existiert. Und ebensowenig hatte es damals natürlich - damit komme ich zu unserem aktuellen Fall Robert Jungk - Versuche oder Geräte gegeben, die darauf abgezielt hätten, dieser Totalzerstörung unserer Welt zuvorzukommen, mindestens dabei zu helfen. Die Protestierenden, die Gegenaktionen und Gegengeräte - und dabei denke ich wahrhaftig nicht nur an Jungk oder an mich, wir stellen nur zufällige Fälle unter tausenden dar -, die sind ebenfalls absolute Novitäten, womit kein Selbstlob gemeint ist, sondern nur das Echo auf die absolute Novität der Gefahr. Diese Novitäten können nicht in alte Fächer gesteckt werden, nicht mit den Begriffen gestriger Jurisprudenz verstanden, beurteilt oder verurteilt werden - kurz: sie sind „Juristisches Sperrgut“. Sie liegen - diese Wiederholung ist von mir beabsichtigt -, da sie total neu sind, außerhalb aller Schemata, nein: geradezu jenseits aller möglichen juristischen Zuständigkeit. Welches Urteil immer die Justiz, weil sie ihre Unzuständigkeit nicht nur nicht versteht, sondern nicht verstehen darf, fällt - ihr Urteil muß ein Fehlurteil sein. Robert Jungk steht zu Unrecht als ein eines Unrechtes Angeklagter vor dem Richter. III. Zur Metaphysik des Juristen: Letzten Endes ist dieser tief gekränkt durch die Tatsache, daß es Veränderungen in aller Welt gibt, daß diese sich verändert. Er ist der Todfeind aller Geschichte, er verabscheut die Zeit. Er verlangt von aller Welt, daß sie so sei, wie sie war; und so bleibe, wie sie ist: also sistiert, damit sie der starren Geltung der Rechtsgesetze und der Geltung der durch diese sanktionierten „pacta servanda“ entspreche. Charakteristisch und repräsentativ die Antwort, die vor kurzem ein geradezu grandios–kontrarevolutionärer Jurist gegeben hat, nachdem man seine „pflichtgetreue“ Tätigkeit während der Nazizeit erwähnt hatte: „Was gestern gültiges Recht gewesen war“, so meinte er nämlich, „das kann ja schließlich nicht deshalb, nur deshalb, weil heute nicht gestern ist, plötzlich ungültig geworden sein.“ Diesen Anspruch auf Ewigkeit könnte man den „Platonismus der Idioten“ nennen. Mit diesem hat er den Massenmord von gestern und heute verteidigt. Sein Ausspruch ist nicht etwa nur aus seinem Munde, aus dem Munde dieses einen Juristen gekommen. Vielmehr war er nachgeplappert. Denn er kommt täglich von den Lippen der Göttin Justitia höchstselbst, die aus einem ganz anderen Grunde ihre Augenbinde trägt, als man gewöhnlich annimmt, nämlich deshalb, weil sie sich mit deren Hilfe täglich blind machen kann gegen die täglich neuartigen „Forderungen des Tages“. IV. Wenn Juristen, abgesehen von Theologen, die einzigen sind, die auch heute noch ohne Vokabelskepsis und ohne Gewissensbisse, also ganz ungeniert, das Wort „ewig“ in den Mund nehmen, so weil sie sich dadurch eine feierliche Metaphysik sichern, das Bild einer Welt, die der von ihnen beanspruchten Unveränderbarkeit der Gesetze und der Gültigkeit ihrer Praxis zu entsprechen scheint. V. Schlußregel: Dasjenige, was geboten ist, das wird nicht durch kodifiziertes Recht bestimmt, sonst würden wir in Nachbarschaft von Freisler geraten, und diese würde uns gewiß moralisch „kaputt“ machen. Vielmehr gilt umgekehrt: Was als „Recht“ zu gelten hat, als „recht“ sowohl kleingeschrieben wie großgeschrieben, das hat allein vom moralisch Gebotenen und Verbotenen abzuhängen.