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Gepanschtes Speiseöl oder Pestizide?

■ Der „Jahrhundertprozeß“ in Madrid um die Massenvergiftungen 1981, an denen bisher über 600 Menschen starben und 25.000 erkrankten, geht in die Endphase / Die Staatsanwaltschaft hält an „Öltheorie“ fest und fordert Jahrtausende von Jahren Haft

Von Johannes Spiegel–Schmidt

Madrid (taz) - In Madrid geht der „Jahrhundertprozeß“ über die Massenvergiftungen von 1981 in seine letzte Phase. Das endgültige Urteil des seit einem Jahr laufenden Prozesses wird im Frühsommer erwartet. 1981 waren an die 25.000 Menschen vergiftet worden, von denen mehr als 600 inzwischen gestorben sind. Viele leiden noch immer an Muskelschwund, Lähmungen, Schlaflosigkeit und anderen dauerhaften Schädigungen. Die Ursachen der Giftkatastrophe liegen bis heute in einem mysteriösen Dunkel. Die offiziellen Gesundheitsbehörden halten eine Rapsölvergiftung für den Auslöser. Eine unabhängige Gruppe von Forschern verweist auf Gemüse, vor allem Tomaten und Paprika, aus der Provinz Almeria als mögliche Ursache. Dieses Gemüse wurde entgegen der zulässigen Sicherheitsfristen mit Pestiziden behandelt. Die Schwachpunkte der „Öltheorie“ liegen darin, daß Vertrieb und Verzehr der verdächtigen Ölsorten nicht auf die Provinzen beschränkt waren, in denen die Vergiftungen auftraten. Insgesamt erkrankten nur sieben von 1.000 Menschen, die das angeblich hochgiftige Öl zu sich genommen hatten. Zudem besteht ein kleiner Teil der Betroffenen trotz aller offiziellen Pressionen weiterhin darauf, nie die Öle angerührt zu haben. Sämtliche Tierversuche mit allen nur erdenklichen Ölproben ergaben keinerlei Symptome, die denen der Vergiftung ähneln. Die „Tomaten–Theorie“ stützt sich auf umfassende epidemiologische Untersuchungen des inzwischen verstorbenen Dr. Muro, die auf eine Gruppe von elf Bauern in der Provinz Almeria zurückgehen. Diese Bauern sollen Pestizide unsachgemäß eingesetzt haben. Jüngste Tierversuche an der Universität Sevilla mit den verdächtigen Giftstoffen konnten jedoch außer der verspäteten Neuropat hie nur wenige Symptome der Krankheit reproduzieren. Unverständlicherweise wurden die Giftstoffe eine Woche vor der Ernte gespritzt und nicht, wie nach Dr. Muro erforderlich, zwei Wochen vorher. In diesem Zeitraum sollen sie ihre größte Giftigkeit hervorbringen. Neue Untersuchungen zur „Öltheorie“ haben ebenfalls keine eindeutigen Ergebnisse erbracht. So stehen in der Endphase des Prozesses immer noch beide Theorien auf tönernen Füßen. Trotzdem werden von der Staatsanwaltschaft für acht angeklagte Öl–Industrielle Strafen bis zu 60.000 Jahren Haft gefordert. 2.000 Zeugen wurden bisher in dem Mammut–Prozeß verhört. Die Verteidigung wird auf Freispruch plädieren, da ihrer Ansicht nach der wissenschaftliche Beweis für die Öltheorie fehlt. Es steht außer Frage, daß in Spanien seit 1971 ein weitgehend offiziell geduldeter, dunkler Handel mit gepanschten Ölen stattfand. Doch erscheint nach den vorliegenden Daten jeglicher Zusammenhang mit der Giftkatastrophe mehr als zweifelhaft. Der ganze Giftskandal wird zum Poli tikum, wenn tatsächlich Pestizide als Auslöser der Vergiftung identifiziert werden könnten. Einige Pflanzengifte stehen chemisch mit hochgefährlichen Nervengasen in enger Verbindung. Um die „Öltheorie“ zu stützen, wurden jahrelang keine Mittel gescheut, sämtliche alternativen Forschungsansätze im Keim zu ersticken und schärfstens zu disqualifizieren. Das Ganze wirkt wie ein großes Komplott. Nach dem bisherigen Prozeßverlauf ist zu befürchten, daß das anstehende Urteil von politischen Kalkülen beeinflußt und zur Wahrheitsfindung wenig beitragen wird.

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