Antisemitischer Frühling am Mittelmeer

■ Israels „Politik der eisernen Faust“ hat bei seinen nicht–arabischen Nachbarn zu einem Anstieg des Antisemitismus geführt / In der Türkei wünschen vor allem die islamischen Fundamentalisten Israel den Tod / Medien verharmlosen das Phänomen / Starker Einfluß auch unter den kurdischen Separatisten in der Osttürkei

Aus Istanbul Ömer Erzeren

„Jude verrecke“ schallt es durch den Saal. Junge, bärtige Männer recken die Faust. „Auf zum Djihad, zum heiligen Krieg, Jude verrecke“. „Solidarität mit Palästina“ ist Titel der Veranstaltung, zu der die islamische Zeitschrift Vahdet aufgerufen hat. Der Mief im größten Kinosaal Istanbuls, dem Kino Safak, ist unerträglich. Die Entlüftung funktioniert nicht, zwei Personen teilen sich einen Sitzplatz, jeder Fleck auf den Gängen ist von Menschenleibern bedeckt. Nur im Frauenteil, der ein Viertel des Saales einnimmt, und wo verschleierte Gesellschaft hockt, herrscht Ordnung. Die meisten kamen überhaupt nicht in den Saal. Der Video wird im Foyer direkt übertragen. „Die Strafe, die ihr erfahrt, ist Folge eurer Sünden. Der Allmächtige prüft euch nun, da ihr verjudet seid. Alkohol, Heroin, Glücksspiel und Aids hat Gott den verjudeten Moslems geschickt“, ruft der Redner mit metallener Stimme dem Publikum zu. „Allahüekber“ - „es gibt keinen Gott außer Gott“, dröhnt es zurück. „Verjudung“ ist zentraler Begriff in den Reden. Weil die Moslems ihren Pflichten zum heiligen Krieg nicht nachkamen und Allahs Reich nicht auf Erden errichteten, herrscht Elend allerorten, nicht nur in Palästina und Afghanistan. Zuviele Moslems hatten sich eingelassen mit dem „Teufel, der dem Juden ähnlich sieht.“ Der Aufstand der Palästinenser im Gazastreifen und in der Westbank und die israelische Politik der „eisernen Faust“ sind für die islamischen Fundamentalisten in der Türkei Anlaß, in die antisemitische Offensive zu gehen. In mehreren Städten der Türkei mobilisierte die fundamentalistische Wohlfahrtspartei über 100.000 Menschen zu Kundgebungen unter dem Motto „Solidarität mit Palästina, verflucht sei der Jude“. Die Polizei sah im Regelfall tatenlos zu. Nur auf der Kundgebung in Istanbul im Beisein des iranischen Konsuls, wurde das allzu provokatorische Plakat „Wehe dir Jude, Mohammeds Armee kommt“, beschlagnahmt. Himmlische Unterstützung schienen die antisemitischen Fundamentalisten im Osten des Landes zu erfahren: „In dem 50.000 Einwohner zählenden Mus demonstrierten 30.000 Menschen“, verkündete stolz das Organ der Wohlfahrtspartei Milli Gazete - Nationalzeitung. Von Istanbul bis Mus sind die Parolen gleich: „Palästina wird das Grab Israels“. Die Massenkundgebungen in den östlichen Provinzen offenbaren, daß die islamischen Fundamentalisten eine nicht zu unterschätzende Massenbasis unter der kurdischen Bevölkerung gewonnen haben. Der durch Israel unterdrückte Palästinenser - ein Bruder des durch die Türkei unterdrückten Kurden? Nur der islamische Staat, der die islamische Nation verheißt, kann, so denken hier viele, die Nationalfrage lösen. Es sind die ersten Kundgebungen, die von der Verwaltung der unter Kriegsrecht stehenden Provinzen erlaubt wurden. Die Hinwendung der unterdrückten kurdischen Minderheit zum isla mischen Fundamentalismus und zur Hetzjagd auf Juden erscheint allemal opportuner als eine Hinwendung zur linken Guerilla. Antisemitismus aus Europa importiert Der von islamischen Fundamentalisten geschürte Antisemitismus machte viele verlegen: Die bür gerliche Presse ebenso wie die großen parlamentarischen Parteien. Ein Großteil der Tageszeitungen verschwieg schlicht die antisemitischen Kundgebungen. Einige meldeten in Kurzmeldungen Solidaritätskundgebungen für die Palästinenser, ohne auf Urheber und antisemitische Inhalte einzugehen. Die linksliberale Cum buriyat berichtete in einem Mini– Artikel, die Palästina–Kundgebungen seien ein Anlauf der islamischen Reaktion geworden. Hürriyet meldete Verstöße gegen die kemalistische Kleiderordnung. So entzog sich die gesamte türkische Presse - sieht man von Zeitschriften der Faschisten und der islamischen Fundamentalisten ab - einer Beschäftigung mit dem Thema. Auch die linken Zeitschriften zogen es der Einfachheit halber vor, die Ereignisse überhaupt nicht zu kommentieren. Der schwierige Umgang mit dem Antisemitismus resultiert nicht zuletzt aus der eigenen Geschichte. Antisemitismus ist in der Türkei - wie anderswo in der islamischen Welt eine junge Erscheinung. Als im europäischen Abendland Pogrome und Verfolgung gang und gäbe waren, wurden Juden ins Osmanische Reich aufgenommen. So schickte der besonders fromme Sultan Beyazid 1492 die osmanische Flotte aus, um die die aus Spanien vertriebenen Juden ins Osmanische Reich zu holen. Er wollte von den handwerklichen Fähigkeiten der Ausgewiesenen profitieren. Nach dem ersten Weltkrieg waren die Juden die einzige religiöse Minderheit, die aktiv Mustafa Kemal Atatürk und die Gründung des laizistischen Nationalstaates unterstützten. Das klassische anti– republikanische und anti–kemalistische Repertoir der islamischen Fundamentalisten wurde seitdem bisweilen mit Antisemitismus kombiniert. Heute liest man in islamischen Zeitschriften das bislang unbekannte „Kauft nicht bei Juden“. Nach dem blutigen Anschlag auf die Istanbuler Synagoge Neve Schalom gifteten die Fundamentalisten Ministerpräsident Özal an, der der jüdischen Gemeinde sein Mitleid ausgesprochen hatte. „Özal, der die Synagoge als Gotteshaus bezeichnete, muß die Moslems um Verzeihung bitten. Terror ruft Terror hervor. Die Welt hat die Massaker von Sabra und Schatila nicht vergessen“, kommentierte der damalige Vorsitzende der Wohlfahrtspartei Ahmet Tekdal. Bereits letztes Jahr setzte die Wohlfahrtspartei Antisemitismus während des Wahlkampfes ein. Der Basis wurde das Bild vom jüdischen Kapitalisten, der fromme Moslems ausbeutet, präsentiert. Insbesondere Kleinhändler und Kleinproduzenten sind es, die - hart von der Austeritätspolitik der Regierung Özal und dem Hochzinsniveau getroffen - Hoffnung aus der islamischen Solidarideologie schöpfen. Gegen „jüdische Händler, Industrielle und Bankiers“: Mit derartigen Parolen gelang es den islamischen Fundamentalisten - nach den Protesten zum Verbot der Kopftücher an den Universitäten - weite Teile in der Bevölkerung anzusprechen. In Urfa stellt die Wohlfahrtspartei bereits den Bürgermeister, der von seinem Amtssitz im Namen Allahs die Juden verflucht: „Ich habe Tod und Teufel der Juden untersucht. Die stellen sogar Gott eine Falle. Gott hat sie verflucht. Ich werde Blumen zu Hitlers Grab bringen.“ 20.000 Juden leben in der Türkei - einem Land mit 45 Millionen Einwohnern... d.Red.