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Olympische Prognose: Alle vier Jahre ein GAU?

■ Die Atomwirtschaft und von ihr abhängige Wissenschaftler äußern sich kleinlauter über Unfall–Prognosen

„Alle 10.000 Jahre ein Unfall - ach, wie die Zeit vergeht!“ So titelten Stuttgarter Bürgerinitiativen 1979 nach dem Beinahe–GAU in Harrisburg auf Flugblättern. Die AKW–Gegner nahmen bundesdeutsche und amerikanische Risikostudien beim Wort, die übereinstimmend - und bis zur Kernschmelze auf Three Miles Island - nahezu unwidersprochen zu dem (scheinbar) beruhigenden Ergebnis gekommen waren, einmal in 10.000 „Reaktorjahren“ müsse die Menschheit sich auf einen schweren Unfall in einem Atommeiler einrichten. Sieben Jahre später, 1986, war es wieder soweit. Noch während „Die Wolke“ aus der Ukraine sich auf ihren Weg um den Erdball machte, entbrannte weltweit eine Diskussion über die Zuverlässigkeit der zumeist staatlich finanzierten und von der internationalen Atomgemeinde angestellten Katastrophen– Kalküle. „Wieviele Tschernobyls hat die Atomenergie für uns auf Lager?“ fragt auch Christopher Flavin in der Februar–Ausgabe 1988 einer vom Washingtoner World Watch Institute herausgegebenen Zeitschrift. Die einleitende Berechnung des Wissenschaftlers ist denkbar simpel: Legt man die alte „Einmal–in 10.000–Reaktor–Jahren–Abschätzung“ zugrunde, ergibt sich - bei Ende der 90er Jahre weltweit zu erwartenden 500 Reaktoren - statistisch gesehen ein GAU alle 20 Jahre. Eine Studie des Oak Ridge National Laboratory (Tennessee) von 1982 ermittelt einen schweren Unfall in 4.000 Reaktorjahren oder einmal in acht Jahren. Tatsächlich schmolzen mit den Reaktorkernen in Harrisburg und Tschernobyl auch die Unfall–Prognosen auf ihren realistischen Kern zusammen. Die beiden Unfälle finden sich auf der Zeitskala nach 1.500 und weiteren 1.900 Reaktorjahren. Wenn es so weitergeht, werden schwere Reaktorunfälle vom Kaliber Tschernobyl oder doch zumindest Harrisburg künftig im Rhythmus der olympischen Spiele auf uns zukommen. Unter diesen Umständen verwundert kaum, daß in der Atomwirtschaft die ursprünglich von ihr selbst lancierten Kalkulationen nicht mehr wohlgelitten sind. Tatsächlich lassen derlei Globalstudien die unterschiedlichen Reaktortechnologien, die Spezifika einzelner Anlagen, Qualifikation und Arbeitsbedingungen des Personals usw. weitgehend außer acht. Insbesondere der „Faktor Mensch“ scheint wenig geeignet, die Unfallprognosen freundlicher zu gestalten. Bei fast allen Unfällen war er der auslösende Faktor - eben nicht nur in der Sowjetunion. Dem im Westen liebevoll ausgemalten Bild vom sozialistischen Schlendrian hält Flavin in seinem Bericht den kapitalistischen Spiegel vor, wenn er an jene legendäre Razzia erinnert, bei der US–amerikanische Kontrolleure 14 von 26 Angestellten eines der größten Atomkomplexe in den USA bei bester Laune, weil bekifft antrafen. Das war im April 1987. Im selben Jahr fand sich die komplette Bedienungsmannschaft des Peach Bottom Atomkraftwerks in Pennsylvania/USA zu einem kollektiven sleep–in im Kontrollraum zusammen, während der Reaktor mit voller Leistung vor sich hinheizte. Laut Flavin werden 1990 etwa 35 Reaktoren älter als 25 Jahre sein; 1995 trifft dies auf 66, im Jahr 2000 schon auf 150 Anlagen zu. Atomkraftwerke werden mit zunehmendem Alter nicht sicherer. Die Alterungsprozesse, die in den Reaktorwerkstoffen unter dem Einfluß jahrzehntelanger (radioaktiver) Belastung ablaufen, sind längst nicht alle untersucht. Immer wieder erleben die Ingenieure böse Überraschungen. 1986 riß im Atomkraftwerk von Surry im US–Staat Virginia ein Heißwasserrohr. Der heiße Dampf tötete vier Arbeiter. Die Rohrwandungen, ursprünglich über einen Zentimeter dick, waren nach 13 Betriebsjahren stellenweise auf die Stärke einer Kreditkarte zusammengeschmolzen. „Meine Zahlen“, schreibt Flavin, „sind keine Zukunftsprognose. Aber sie beweisen, daß die atomare Unfallhäufigkeit schon heute unerträglich ist.“ Gerd Rosenkranz

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