Polnische Dynamik

■ Jaruzelski hat den Schlüssel in der Hand

Die unabhängige Gewerkschaft Solidarität ist nicht mehr so stark wie früher. War die erste freie Gewerkschaft im Realen Sozialismus noch vor acht Jahren der repräsentative Ausdruck der polnischen Arbeiterklasse, so ist sie heute eine politische Strömung unter anderen. Wenn auch die Streikenden zu Solidarnosc mehr Vertrauen als zu den offiziellen Gewerkschaften haben, folgen sie doch nicht allen politischen Parolen von Solidarnosc. Und in der Person Walesas kristallisiert sich zudem der Widerspruch der Opposition, selbst eine radikale Wirtschaftsreform zu fordern, die auch ihre sozialen Kosten hat, und gleichzeitig eine Streikbewegung zu unterstützen, die nur unmittelbar auf die (notwendigen) Preiserhöhungen reagiert. Die Dynamik der Entwicklung zwingt Walesa zwar zu einer radikalen Rhetorik, nicht jedoch zur radikalen Aktion. Die Machtfrage wird im heutigen Polen im Gegensatz zu 1980 von seiten der Opposition nicht mehr gestellt. Wenn Jaruzelski seinen Putsch 1981 mit dem drohenden Einmarsch der Russen begründen konnte, so hat sich heute dieses Argument verbraucht. Eine Intervention der Roten Armee ist undenkbar. Die polnische Wirtschaftsreform ist in Moskau ausdrücklich erwünscht. Daß Jaruzelski trotzdem das Angebot der Opposition zur Zusammenarbeit ausschlägt und deren Führungsspitze verhaften läßt, könnte sich für das Regime und die polnische Gesellschaft schon bald als erneuter historischer Fehler erweisen. Denn Jaruzelskis Kurs kann im Gegensatz zu 1981 jetzt sogar für die sowjetischen Reformer gefährlich werden. Die Streiks können zu Wasser auf die Mühlen jener in der Sowjetunion werden, denen der ganze Reformkram nicht mehr paßt. Ein politischer Kompromiß in Polen ist erforderlicher denn je. Erich Rathfelder