: Der Anti-Le Pen-Plan des Michel Rocard
■ Der neue französische Premierminister beschreibt sein Modell einer sozialen Deregulierung
Es besteht heute die Gefahr, daß die Arbeitslosigkeit zum gesellschaftlichen Nicht–Thema wird. Die Ausgrenzungsmechanismen werden sich verstärken, das Risiko einer Spaltung unserer Gesellschaft größer werden. Das zeigen die Wahlergebnisse von Jean–Marie Le Pen. Ziehen wir Bilanz. Beschäftigung - das ist zunächst Wachstum. Auch wenn die keynesianischen Rezepte ins Zwielicht geraten sind, bleibt doch eines gültig: Ein starkes Wachstum führt zu kumulativen Effekten, die sich selbst weitertragen. Umgekehrt vergrößert sich aber auch die Arbeitslosigkeit durch ihre eigenen Folgewirkungen. (...) Aufgrund der arbeitssparenden Techniken steigen die Produktivitätsgewinne schneller als das wirtschaftliche Wachstum. Dadurch droht sich der Graben zwischen denen, die vom technologischen Fortschritt profitieren, und denen, die zurückgelassen werden, zu vergrößern. Unsere Aufgabe ist also eine doppelte: Wachstum durch Produktivität erreichen, aber ihm nicht einen großen Teil der aktiven Bevölkerung opfern. Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit: das der amerikanischen Arbeitsplätze in den letzten 15 Jahren. Jenseits des Atlantiks sind 20 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden und keine in Europa. Die USA konnten Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich entwickeln (sie machen 85 Prozent der neuen Jobs aus), in Bereichen von geringer Kapital– und hoher Arbeitsintensität. In Frankreich und Europa ist es genau umgekehrt: Man hat sich bemüht, möglichst viel Arbeitskraft einzusparen. Die wachsende Belastung durch Sozialabgaben hat zu einer Illusion der Unternehmer beim Kostenvergleich der Produktionsfaktoren geführt: Neueinstellung wurde für sie gleichbedeutend mit mit Zunahme der Belastungen, während Investition dank der Amortisation zum Synonym für Steuererleichterung wurde. Diese Überbesteuerung der Arbeit führt dazu, daß Arbeit um jeden Preis eingespart wird, und ist in einer Situation der Unterbeschäftigung vollkommen irrational. Um die Erwartungen der Unternehmen zu verän dern, müssen wir vorsichtig, aber entschlossen, eine schrittweise Verringerung der lohngebundenen Sozialabgaben anstreben. (...) Das amerikanische Beispiel weist uns allerdings gleichzeitig auf die Gefahren einer solchen Strategie hin: die Förderung einer dualen Wirtschaft, in der ein dynamischer Sektor mit hohen Produktivitätsgewinnen und hohen Löhnen zusammen existiert mit einem Krisensektor, in dem Arbeitskräfte zur Genüge vorhanden, aber die Löhne sehr niedrig sind. Damit kann sich die Linke natürlich nicht zufrieden geben - und heute steht ihr soziales Gewissen glücklicherweise eben nicht im Widerspruch zur ökonomischen Effizienz. Entgegen landläufiger Meinung verbessert der Abbau von Arbeitsplatzsicherheit nicht die Flexibilität des Arbeitsmarkts: er begrenzt sie sogar. Die neuen Unsicherheiten verringern weitaus mehr die geographische und professionelle Mobilität der Arbeiter, als daß sie sie verbessert. Eine Beschäftigungspolitik darf also die Absicherung der Arbeitnehmer nicht gefährden, sondern muß ihnen die Möglichkeit, ja sogar die Lust an ihrem sozialen Fortkommen sichern. Die beiden Instrumente, die ich vorgeschlagen habe, Ausbildungsdarlehen und Mindesteinkommen, gehen in diese Richtung. Sie müssen dazu beitragen, die Arbeitnehmer von der Furcht vor dem Arbeitsplatzwechsel zu befreien und sie dazu motivieren, sich zu qualifizieren. (...)Schrittweise steuerliche Entlastung der Kosten der Arbeit, Ausbildungsdarlehen und Mindesteinkommen sind die drei notwendigen, wenn auch ungenügenden Maßnahmen. Eine andere Dimension kommt hinzu: die Arbeitszeitverkürzung. (...) Doch die Erfahrung zeigt auch, daß sie nicht durch Gesetz oder Anordnung erlassen werden kann. Für neue Sozialbeziehungen in den Unternehmen brauchen wir auch neue Tarifstrukturen und -Verträge. Die Beschäftigten müßten darin ein größeres Mitspracherecht erhalten und sich dafür bei der Arbeitszeitgestaltung und der Handhabung von Kosten flexibler zeigen. Einführung neuer Technologien, Arbeitszeitregelung, Ausbildung und dezentrale Lohnverhandlungen - das sind die Elemente, die verbunden werden müssen, um der Tarifpolitik neues Leben einzuhauchen. (...) Unzählige Dienstleistungen tragen zur Entfaltung der Individuen bei, im Bereich der Gesundheit, Bildung, Kultur oder Freizeit. Ich habe vor, diesen Aktivitäten bessere Bedingungen zu verschaffen, als sie heute im Handel gelten. Unter der Bedingung, daß für eine bestimmte Zeit auf Gewinn verzichtet wird, können diese Aktivitäten von Sozialabgaben befreit werden. (...) So könnte eine Gesellschaft, die von Verschwendung und vom Auseinanderbrechen bedroht ist, starke Elemente der Bindung und der Leistungsfähigkeit erhalten. Wer könnte an der Dringlichkeit dieser Aufgabe zweifeln, nachdem uns der Stimmanteil Le Pens sie so schonungslos vor Augen geführt hat. Es genügt nicht, den Bann gegen ihn zu verhängen, indem man ihn bekämpft. Ich habe nie aufgehört zu sagen, daß der Wählerschaft der extremen Rechten mit sozialen Maßnahmen begegnet werden muß. Sie werden aufwendig und schwierig sein. Wir danken Michel Rocard und dem Nouvel ObservacÜbersetzung: Martina Kirfel / Alexander Smoltczyk
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