Warum droht in Vietnam eine Hungersnot?

■ Einem Bericht der kommunistischen Parteizeitung zufolge droht die Mißernte im Mekong–Delta die Versorgung zu bedrohen / Seit der Wiedervereinigung konnte Vietnam seine wirtschaftliche Stagnation nicht überwinden / Die Situation erzwingt die Liberalisierung

Von Simone Lenz

Berlin (taz) - Inflation, Spekulantentum und nicht näher bezeichnete „Schwierigkeiten“ der Reisbauern seien nach einem Bericht der kommunistischen Parteizeitung die Ursachen für die drohende Hungersnot in großen Teilen Vietnams. In mehreren Bezirken müßten sich die Menschen von Gemüse und Reisschleim anstelle von gekochtem Reis ernähren. Die Reisernte in der Provinz Hau Giang im Mekong–Delta bleibe hinter den Erwartungen zurück und zerstöre damit die Hoffnung, Versorgungsengpässe in besonders betroffenen Gebieten schließen zu können. Anstelle der geplanten 240.000 Tonnen seien im Hauptreisanbaugebiet in Hau Giang im Herbst nur 112.000 Tonnen geerntet worden. In den 13 Jahren seit seiner Wiedervereinigung 1975 ist es Vietnam nicht gelungen, die wirtschaftliche Stagnation zu überwinden. Mit einem Pro–Kopf–Einkommen von etwa 200 Dollar 1986 gehört es zu den ärmsten Ländern. Bei 63 Mio. Einwohnern, von denen 72 Prozent von der Landwirtschaft leben, verfügt das Land nur über sechs Millionen Hektar Anbaufläche. Mit anderen Worten, die demographische Situation ist explosiv. Jedes Jahr werden mehr als zwei Millionen Kinder geboren und 1,4 Millionen Jugendliche drängen auf den Arbeitsmarkt. Im Vergleich zu den übrigen asiatischen Ländern und zu den anderen Mitgliedstaaten des COMECON hat das Land die niedrigste Zahl von Studenten: 21 auf 10.000 Einwohner, in der Mongolei sind es dagegen 130, in Cuba 232. Der stark defizitäre Staatshaushalt wird zu 40 Prozent mit auswärtigen Krediten finanziert, hauptsächlich aus der Sowjetunion. Die Verschuldung Vietnams ist zwischen 1980 und 1986 von 2,7 Milliarden Dollar auf 8.1 Milliarden Dollar gestiegen, eine Inflation von 700 Prozent hat das Land an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Ausschlaggebend für die Zuspitzung der Lage war die in allergrößter Heimlichkeit beschlossene Währungsreform von 1985. Ziel der Operation war es, die Menge des Geldumlaufs zu reduzieren, über die die Zentralbank den Überblick verloren hatte, sowie teilweise die Bargeldbestände zu entwerten, die angeblich von freien Händlern und kleinen Selbständigen gehortet wurden. Diese Gruppen jedoch waren durch den Schaden gewarnt, den ihnen die Reformen von 1975 und 1978 zugefügt hatten; sie gingen dazu über, ihre Ersparnisse in Gold, Devisen oder Waren anzulegen. Die Staatsunternehmen hingegen hatten unter der Reform schwer zu leiden: Sie hatten illegale Rücklagen gebildet, um sich auf dem Schwarzmarkt versorgen und den Beschäftigten Prämien bezahlen zu können; nun sahen sie sich paralysiert. Eine Welle der Unzufriedenheit überzog daraufhin das Land. Mittlerweile sind Zeichen der Erneuerung sichtbar geworden - besonders auffällig ist eine wachsende Presse, die zuweilen offene Opposition erlaubt. Das katastrophale Ausmaß der Arbeitslosigkeit ist seit langem ein Thema von Presseberichten. Fünf bis sechs Millionen junger Menschen, fast ein Drittel der Altersgruppe der 16–30jährigen, sind inzwischen davon betroffen. Neu ist jedoch, daß die Jugendlichen sich trauen, ihre drängendsten Probleme zu thematisieren: Die verhaßte Diskriminierung durch die ly–lich - eine Art Leumundszeugnisse mit Informationen über ihren familiären und sozialen Hintergrund und ihre politische wie religiöse Überzeugung, die für den Zugang zur Universität oder bestimmten Berufen entscheidend sind -, die Umerziehungslager, ihre Abneigung, nach Kampuchea in den Krieg zu ziehen, die politische Überwachung der Machthaber. Auch der außenpolitische Kurs hat sich angesichts des Staatsdefizits geändert. Die Ausgaben für Militär und Polizei machen zwischen 38 und 45 Prozent des Staatshaushalts aus. Sowohl Vietnam als auch die Sowjetunion befürworten inzwischen Verhandlungen über Kampuchea. Noch im Laufe dieses Jahres will Vietnam mindestens 40.000 Soldaten etappenweise aus Kampuchea abziehen. Im April erwähnte das Politbüro in einer von der vietnamesischen Presse veröffentlichten Resolution „Irrtümer“ der Vergangenheit und benannte gleichzeitig die wichtigsten anzustrebenden Management–Reformen für den ländlichen Sektor. Nicht allein das Wetter wurde für die Mißentwicklung verantwortlich gemacht, sondern auch politische Fehler, die den Enthusiasmus der Bauern beeinträchtigten und die Entwicklung der Produktion hemmten. Bemängelt wurde die schnelle und zu radikale Kollektivierung, Gleichmacherei bei den Einkommen, ausufernde finanzielle Belastungen sowie Machtmißbrauch lokaler Funktionäre. Selbstverwaltung, Profitorientierung und die Weiterentwicklung des privaten Sektors bilden die drei Hauptpfeiler des neuen Programms.