: Explosiver Cocktail in De Bijlmer
■ In den Niederlanden scheitert ein staatliches Förderungsprogramm für Rückstandsgebiete im eigenen Land / Der Amsterdamer Vorort De Bijlmer ist ein Beispiel
Von Henk Raijer
Berlin (taz) - Vierzehn U–Bahnminuten trennen das Zentrum Amsterdams von „Klein Paramaribo“, dem berüchtigten Betonlabyrinth De Bijlmer. Auf den Rasenflächen zwischen den riesigen Wohnsilos spielen „alteingesessene“ Surinamer und tamilische Flüchtlinge Fußball, Barbecue– Gerüche und antillanische Steelband–Klänge. Ein Frühsommeridyll. Auf dem kleinen Rondell vor Cafe Het pleintje treffen sich die Junks, ausnahmslos antillanischer und surinamischer Herkunft. Im Cafe herrscht um zwei Uhr nachmittags reger Betrieb. Willy Lackin, Vorsitzender des Jugendzentrums, regt sich gerade über die Wohnungsvergabe–Politik der Stadt auf: „De Bijlmer gehört uns Surinamern. Seht euch nur mal die Ghanaer an - tun so, als seien sie etwas Besseres, weil wir Sklaven waren und sie nicht. Und die Tamilen wollen uns den Drogenhandel streitig machen. Das gibt Krieg!“ 750.000 „Fremde“ zählen die Niederlande, das heißt fünf Prozent der Gesamtbevölkerung von 15 Millionen. Dazu gehören 45.000 Südmolukker, 230.000 Surinamer, 75.000 Griechen, Spanier und Jugoslawen sowie 350.000 Türken und Marokkaner. Etwa die Hälfte von ihnen lebt in Amsterdam, Rotterdam, Utrecht und Den Haag. Der Anteil „fremder“ Ethnien in den alten Stadtteilen und modernen Vorstadtsiedlungen dieser Ballungsgebiete beträgt nahezu 50 Prozent, bei der Altersgruppe bis 15 Jahren liegt er weit darüber. Während die Arbeitslosenquote der Einheimischen bei etwa 14 Prozent liegt, beträgt sie für die Immigranten über 50 Prozent. Daß es noch nicht zu größeren „Rassenunruhen“, vergleichbar denen in England oder Frank reich, gekommen ist, ist zweifellos jener spezifisch niederländischen Ausformung bürgerlicher Hegemonie zu verdanken, die durch die Begriffe Toleranz und Pluralismus geprägt ist. Diese politische Kultur entspringt keineswegs einer kollektiven oder gar nationalen Tugend, sondern einem wohlverstandenen Eigeninteresse, vorhandene gesellschaftliche Spannungen rechtzeitig zu erkennen und zu kontrollieren. „Beiderseitige Anpassung in einer multikulturellen Gesellschaft“ - unter diesem Motto initiierte das niederländische Ministerium für Soziales und Kultur zu Beginn der achtziger Jahre eine offensive Migrantenpolitik, mit dem Ziel, die Bedingungen, unter denen die Angehörigen ethnischer Minderheiten leben wollen, durch gezielte Maßnahmen in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Soziales und Bildung zu verbessern. „Minderheitenproblematik ist eigentlich der falsche Begriff. Es handelt sich um soziale Probleme unserer Gesellschaft, die einer integralen Lösung bedürfen“, sagt Henk Mollemann, Begründer des Minderheitenentwurfs von 1983. Sein integraler Ansatz wird seit 1985 mit der „Problemkumulationsgebiete–Politik“ (PCG) in 30 sogenannten „Rückstandsgebieten in 16 Städten praktiziert. Stadterneuerung, Ausbildung, Umschulung und Arbeitsplatzbeschaffung bilden den Kern des Programms. Die Geldtöpfe, aus denen zuvor die verschiedenen Ministerien zugunsten von Minderheitenprojekten zu schöpfen pflegten, wurden zusammengelegt und die Verwendungshoheit dezentralisiert. 53 Millionen Gulden wurden für den zunächst auf vier Jahre (1985–89) angelegten Plan projektiert. Aber vieles lief schief. Ein interner Zwischenbericht der fünf Projektkoordinatoren in Amsterdam besagt, daß zu viele Gelder in Schulungsprojekte geflossen seien, ohne daß dies eine Zunahme von Arbeitsplätzen zur Folge gehabt hätte. Weder das regionale Arbeitsamt noch die verantwortlichen Kommunalpolitiker wissen genau, wieviel Zielgruppen am Programm teilnehmen und in welche Projekte die 40 Millionen, die bis heute ausgegeben wurden, investiert wurden. Die Amsterdamer Vorstadt De Bijlmer gehört zu den staatlich unterstützten Problemzonen. Auch hier läßt der Erfolg auf sich warten. „Keine Ausbildung, keine Arbeit, keine Zukunft“ ist heute das Fazit von Roy Groenberg, Sozialarbeiter, Surinamer. Er lebt seit den frühen siebziger Jahre im Amsterdamer Stadtteil De Bijl. 65 Prozent der Bijlmerbewohner leben von Sozialhilfe, 80 Prozent bekommen Wohngeld, 40 Prozent haben Mietrückstände bis zu 2.000 Gulden. Die Grundschule hier zählt 30 verschiedene Nationalitäten, der Konsum liegt um 35 Prozent unter dem Amsterdamer Durchschnitt. Die Kinderprostitution und der Drogenhandel haben dafür erschreckend zugenommen. Die Dealer werden immer jünger. „Ein explosiver Cocktail“, meint Henk Mollemann. Der Sozialarbeiter befürchtet: „Wenn nicht bald was geschieht, wird De Bijlmer brennen wie einstmals Brixton!“ Das großzügig angelegte PCG– Programm - ein Flop. Gründe für das Scheitern sind Unverständnis, mangelnde Zusammenarbeit und Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ministerien, Arbeitsämtern und Kommunen sowie zwischen Kommunen und Projektmitarbeitern. Hinzu kommt die Unfähigkeit, über die eigene Amtsstube hinauszudenken. Für die noch ausstehenden 13 Millionen weiß das Innenministerium in Den Haag allerdings schon eine Verwendungsmöglichkeit: Die Finanzierung einer Analyse der bereits begangenen Fehler des großangelegten Projekts.
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