Selbstgerecht und doch verunsichert

■ Bei der „Jahrestagung Kerntechnik“ in Travemünde gab es einen Nicht–Willkommensgruß / Von G. Rosenkranz

Der Boxer wurde an– aber nicht ausgezählt. Nach dem Nukem/ Transnuklear–Skandal war die bundesdeutsche Atomwirtschaft wesentlich stärker angeknockt als nach der Katastrophe von Tschernobyl. Diese Einschätzung hat sich in der Atomgemeinde vier Monate nach dem Auffliegen der Atommüllschiebereien durchgesetzt. Schuld jedoch, auch darüber besteht in diesen Tagen bei der Jahreshauptversammlung der Atomfreunde in Travemünde Einigkeit, sind andere: vornehmlich Politiker und Journalisten. Die Buhmänner der Nation vom Jahresanfang dagegen erleben an der Ostsee ihre „interne Rehabilitierung“, wie einer der Betroffenen sich ausdrückte. Karl–Gerhard Hackstein, beurlaubter Nukem– Geschäftsführer, spricht die Laudatio zur Verleihung eines Preises der Atomwirtschaft. Sein Ex–Kollege Peter Jelinek–Fink hält vor den Mitgliedern der Kerntechnischen Versammlung (aber unter Ausschluß der Öffentlichkeit) ein „philosophisches Referat“ zur Zuverlässigkeit in der Atomwirtschaft. An die Stelle von Weinerlichkeit und Durchhalteparolen sind neue Forderungen in Richtung Politik getreten. Kerntechniker seien in den Augen der Öffentlichkeit „nicht mehr vertrauenswürdig“, klagt der Präsident des Deutschen Atomforums, Rudolf Guck. Und wenn sich in einer solchen Situation die Politiker opportunistisch davonmachten, „dann ist klar, daß die Dämme brechen“. Deshalb müsse der Bundestag die Atomwirtschaft umgehend von dem Vorwurf freisprechen, gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen zu haben. Außerdem fordert Guck ein klares Bekenntnis der Bundesregierung zur weiteren Nutzung der Atomenergie - das Reaktorminister Töpfer auf der Tagung auch prompt abliefert. Der Bundesreaktorminister hat sich mit seinem Grundsatzreferat wohl endgültig zum effektivsten, weil „nachdenklichsten“ Vorreiter der Atomenergie gemacht. „Wir müssen auch eine Zukunft ohne Kernenergie erfinden“, erzählte der Minister den Agenturen. Den Kongreßteilnehmern dagegen erläuterte er später genauer: umso höher werde die Akzeptanz für die Atomtechnik, gerade weil Alternativ–Energien hierzulande nie einen wesentlichen Teil des Energiebedarfs würden decken können. „Lächerliche Abfälle“ Eine weitere zentrale Forderung der Tagung ist die „Verwirklichung des Entsorgungskonzepts“, insbesondere die Bereitstellung des Schachts Konrad in Niedersachsen. PreAG–Chef Herbert Krämer stimmt einem Journalisten in der Sache zu, der den Wirbel um die (unter dem Sicherheitsgesichtspunkt) „lächerlichen“ schwach– und mittelaktiven Abfälle und Töpfers Entflechtungsaktionismus geißelt. Aber man habe dazugelernt, klärt der PreAg–Chef den Kollegen von der schreibenden Zunft auf: Denn auch kleine Anlässe könnten, siehe Transnuklear/Nukem, gewaltige Konsequenzen haben. Die ungebrochene Selbstgerechtigkeit der großen Mehrzahl der Kongreßteilnehmer paart sich mit einer tiefen Verunsicherung, die weniger mit der Vergangenheit, als mit der Zukunft zu tun hat. Man ist sich bewußt, daß weitere Skandale den schnellen Tod der Atomkraftnutzung bedeuten müßten. Ohnehin werden die Perspektiven eher düster eingeschätzt. Das Ausbauprogramm der bundesdeutschen Atomwirtschaft ist mit der bevorstehenden Inbetriebnahme der letzten Leichtwasserreaktoren auf mittlere Sicht praktisch abgeschlossen. Die Exportchancen für diese Mammut–Reakoren tendieren ebenfalls gegen Null. Der Ruf nach Inbetriebnahme des Schnellen Brüters und der Entwicklung von Nachfolgebrütern klingt eher wie das berühmte Pfeifen im dunklen Wald. Selbst für den nach außen mit soviel Propagandaaufwand angekündigten kleinen Modul–Hochtemperaturreaktor können die bundesdeutschen Atompäpste im Inland keinen Markt mehr entdecken. „China und Sibirien, also entlegene Gebiete mit kleinen Netzen“, stellen Guck und Krämer sich als HTR–Modul–Standorte vor. In der Bundesrepublik genüge eine einzige Referenzanlage. Ketzer auf dem Kirchentag Doch nichts von alledem kennzeichnet die Lage der Atomwirtschaft so symbolhaft wie das „herzhafte Nicht–Willkommen“ (Krämer) der Atomwirtschaft durch den Bürgermeister der Hansestadt. Zur Selbstvergewisserung war man nach Travemünde gekommen und mußte feststellen, daß selbst der eigene Kirchentag nicht frei von Ketzern war. „Manche Sozialdemokraten sind schlimmer als die Kommunisten“, war unter Anspielung auf in letzter Zeit paraphierte Koopera tionsverträge mit China und der Sowjetunion zu hören. Das Wahlergebnis in Schleswig–Holstein wurde zum zentralen Gesprächsthema in den Gängen. Gerüchte und Spekulationen blühten genauso wie unter eingefleischten AKW–Gegnern. Ein Interatom– Mann beispielsweise verbreitete die „noch nicht belastbare“ Nachricht über einen geheimen Deal, den die SPD der Atomwirtschaft anbiete. Danach will die SPD alle Reaktoren laufen lassen und ei nem begrenzten Zubau zustimmen, falls auf Brüter und WAA verzichtet werde. Eingehen dürfe man darauf jedoch auf keinen Fall. Denn Brüter und WAA wären dann bis zur nächsten Wahl unwiderbringlich erledigt. Und danach könnten sich die Sozialdemokraten unter Berufung auf eine „demokratische Entscheidung der Bevölkerung“ vom zweiten Teil des Handels verabschieden. Einen focht die ganze Diskussion wenig an. Der SPD–Bundestagsabgeordnete Horst Grunenberg, Abgesandter seiner Fraktion in Travemünde und Mitglied im Verwaltungsrat des Deutschen Atomforums, fand zwar überhaupt keinen Gefallen am Auftritt seines Parteifreunds Bouteiller vor dem Atomforum. Die ganze Ausstiegsdebatte spiele sich jedoch in „Wolkenkukucksheim“ ab, meinte Grunenberg. 1992 komme der gemeinsame Markt - und damit jede Menge Atomstrom aus Frankreich.