Londons lästiges Anhängsel

■ Die Mehrheit der britischen Bevölkerung will mit Nordirland nichts mehr zu tun haben / Doch die koloniale Mentalität der „ruling class“ gegenüber der „Krisenprovinz“ lebt weiter / Hilf– und Konzeptlosigkeit britischer Politik / Geheimdienste und Armee bestimmen das britische Handeln in Ulster

Aus London Rolf Paasch

Großbritannien im Frühjahr 1988. Auf den Falklandinseln, so berichtet die Presse, finden Manöver der britischen Streitkräfte statt. Auf Gibraltar wird ein dreiköpfiges Kommando der Irisch Republikanischen Armee (IRA) von der britischen Sondereinsatztruppe SAS erschossen. Im nordirischen Belfast steuern zwei britische Soldaten in Zivil ihr Fahrzeug in den Trauerzug einer IRA– Beerdigung, werden von der aufgebrachten Menge aus dem Wagen gezogen und erschossen. Schlagzeilen, die vom mühseligen Abschied des einst so mächtigen britischen Empire von seinen letzten Kolonien zeugen. Doch kaum jemand auf dem britischen Festland sieht die jüngsten dramatischen Ereignisse in und um die „Krisenprovinz Ulster“ im spät– kolonialen Kontext. „Für die britische ruling class“, so sagt der Kolumnist Anthony Barnett, „ist Nordirland immer noch integraler Bestandteil des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland.“ Für die Forderung der nordirischen Katholiken, zumindest der Republikaner unter ihnen, nach einem Abzug der britischen Besatzungstruppen, hat das britische Establishment in London denn auch wenig Verständnis. Die Bevölkerung im Reiche Margaret Thatchers sieht das allerdings mittlerweile ganz anders. Nach verschiedenen Meinungsumfragen wollen 50 bis 60 Prozent aller Festlandbriten mit dem lästigen Anhängsel Nordirland, wo sich ihrer Meinung nach die protestantischen Unionisten (60 Prozent der Bevölkerung) und die katholischen Nationalisten (40 Prozent) nur gegenseitig die Köpfe einschlagen, nichts mehr zu tun haben. Nur dann, wenn „unsere Jungs“ in Nordirland ihren Tod finden, ist für die Briten das „akzeptable Niveau der Gewalt“, das ein wenigstens ehrlicher, konservativer Minister einmal als das Ziel britischer Nordirland–Politik definierte, überschritten. Dann folgt wie im März eine Phase ritualistischer Empörung, offiziell verschriebenen Horrors über die Brutalität der Ereignisse; dann herrscht Einigkeit, wird im Parlament der emotionale Schulterschluß aller zivilisiert–britischen Demokraten praktiziert; dann tritt kollektive Betroffenheit an die Stelle des sonst gemeinschaftlichen Desinteresses; ja dann werden selbst Ausstiegsszenarien durchgespielt und ebenso schnell wieder verworfen. Der von Teilen der britischen Linken, von der Troops–Out–Bewegung und Sinn Fein geforderte Rückzug der britischen Truppen aus Nordirland, so heißt es dann, werde nur ein Blutbad zwischen Katholiken und Protestanten zur Folge haben. In der Tat könnte ein rascher Rückzug für die katholische Bevölkerungsminderheit die Gefahr heraufbeschwören, dann der unionistischen Mehrheit erst recht ausgeliefert zu sein, die im Konfliktfall auf Waffen und Infrastruktur der vornehmlich protestantischen Sicherheitskräfte zurückgreifen könnte. Dieses Risiko dürfte selbst einer Mehrheit der katholischen Bevölkerung Nordirlands zu groß sein. Szenarien der Nordirlandpolitik Die äußerste Rechte Großbritan niens - und mit ihr die Mehrheit der protestantischen Loyalisten - fordern dagegen die Intensivierung der militärischen Kampagne gegen die IRA, die Einführung der Todesstrafe und weiterer Killerkommandos der SAS, die Internierung von Terrorismusverdächtigen wie in den siebziger Jahren und ein Verbot von Sinn Fein, dem politischen Arm der IRA. Dem steht jedoch nicht nur die jüngst von einem hohen britischen General geäußerte Ein schätzung, die IRA sei militärisch nicht zu besiegen, entgegen. Solche Vorschläge sind auf demokratische Weise auch nicht durchsetzbar. Was nach solchen Überlegungen als realistische Alternative bleibt, ist eine Politik der kleinen Schritte mit dem Ziel einer Selbstverwaltung Nordirlands, der „devolution“; wobei Dublin und London die Aufgabe zukäme, die politische und soziale Gleichberechtigung der katholischen Bevölkerungsminderheit zu garantieren. Genau diesem Ziel sollte ja das im November 1985 trotz der lautstarken Proteste der Unionisten zwischen Premierministerin Thatcher und dem damaligen irischen Premier Garret Fitzgerald abgeschlossene anglo–irische Abkommen dienen. Dublin wurde ein Mitspracherecht in die Angelegenheiten Nordirlands eingeräumt. Im Gegenzug sicherte die irische Regierung den Briten eine bessere Polizeikooperation bei der Bekämpfung der IRA entlang der irisch–irischen Grenze sowie die Verabschiedung eines Auslie ferungsvertrages zwischen Dublin und London zu. Bisher stellte die Republik Irland einen Fluchthafen für in Nordirland strafverfolgte IRA–Mitglieder dar. Mittlerweile kooperiert die südirische Gardai im Grenzgebiet bereitwillig mit der nordirischen RUC–Polizei. Selbst Teile der Loyalisten haben die Nutzlosigkeit ihrer wütenden Proteste gegen eine Beteiligung Dublins am politischen Geschehen in „ihrer“ protestantischen Provinz eingesehen und schlagen moderatere Töne an. Einzig und allein die britische Re gierung hat ihre Verpflichtungen aus dem Nordirland– Abkommen nicht eingehalten: Die Katholiken warten bis heute vergeblich auf ernstzunehmende Schritte zur Abschaffung der jurylosen Diplock– Courts, wo ein Richter mutmaßliche „Terroristen“ gleich reihenweise aburteilen kann; auf Anti– Diskriminierungs–Gesetze am Arbeitsplatz (die Arbeitslosigkeit der Katholiken liegt immer noch um das Zweieinhalbfache über der der Protestanten) und auf eine ge rechte Verteilung der jährlich in die Provinz fließenden 1,5 Mrd. Pfund (knapp fünf Mrd. DM) an britischen Subventionen. Statt dessen hat die Regierung Thatcher gerade in den letzten Monaten keine Möglichkeit ausgelassen, der mißtrauischen katholischen Bevölkerung Nordirlands gegenüber die Gräben weiter zu vertiefen. Während sie von der republikanischen Sinn Fein Partei, die von knapp ein Drittel der katholischen Minderheit gewählt wird, eine Abkehr von der Gewalt fordert, operieren britische Sicherheitskräfte und Justiz weiter so, als gelte es, die IRA militärisch und nicht politisch zu besiegen. Gezielte Nichtlösung Doch was in den katholischen Ghettos von West–Belfast betrachtet wie eine gezielte Strategie zur Sicherung des repressiven Status quo aussehen muß und was von der Sinn Fein–Führung weiterhin als imperiale Logik interpretiert wird, erklärt sich tatsächlich aus der traditionellen und strukturellen Inkohärenz britischer Nordirland–Politik von Wilson bis Thatcher. Obwohl die Regierung in London es längst leid ist, die von einer politischen und ökonomischen Dauerkrise geschüttelte Provinz Ulster weiter zu subventionieren, fehlt nach wie vor der politische Wille, eine langfristige Nordirland–Politik zu entwickeln und auch durch schwere Zeiten hindurch weiterzuverfolgen. Unterdessen wird das britische Handeln in Sachen Nordirland von einem über 20 Jahre sorgfältig ausgebauten Sicherheitsapparat aus zwei Geheimdiensten, RUC, SAS und britischen Armeeeinheiten bestimmt, der kaum noch politisch zu kontrollieren ist, und von einem Justizapparat, in dem die kolonialen Mentalitäten der ruling class fröhlich weiterleben. So ist denn Nordirland für Großbritannien längst zu dem geworden, was der Nahe Osten für die USA darstellt: ein Krisenherd, der so weit weg ist, daß seine gezielte Nicht–Lösung nicht gefährlich werden kann; ein politisches Problem, bei dem sich die Politiker nur ihre Finger verbrennen können; ein Konflikt, den zu verstehen, sich keiner mehr die Mühe macht; eine Auseinandersetzung, deren Wahrnehmung von der eigenen historischen Ignoranz verzerrt wird; eine Fehde unterentwickelter Volksstämme, deren tatenlose Beobachtung noch das Gefühl der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit stärkt. Solange Nordirland in England nur als Terrorismus–Terrain und nicht als von London mitgeschaffenes politisches Problem verstanden wird, solange keine Partei und Regierung daran geht, die Hilflosigkeit und Konzeptionslosigkeit spätkolonialer britischer Politik zu überwinden, so lange wird es auch für Nordirland keine Gerechtigkeit und keine Lösung geben.