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Probe mit Phantomen

■ Heute wird in Berlin Tadeusz Kantors Stück „Ich kehre nicht mehr zurück“ (wieder)uraufgeführt

Das Stück ist ein Ereignis, aber kein Theaterereignis im üblichen Sinn - Phantome des polnischen Martyriums aus der Umgebung deutscher Massenvernichtung treten auf. Der Anspruch dieses „Theaters des Todes“ ist einzigartig: europäische Moderne, ganz neu, weil neu erschaffen in der Isolation des besetzten Krakau.

„Phantome, es sind, wie sagt man, Gespenster“ - mitten in einer der Proben, zwischen zwei Wutausbrüchen, gestattet sich Tadeusz Kantor ein versonnenes Lächeln und eine kleine beiläufig gesprochene Erklärung für das Publikum. Theater der Phantome. Um es gleich zu sagen: Die Proben erlauben nicht, sich einen Begriff von der Aufführung zu machen, geschweige denn eine Vorkritik. Wie überhaupt das Wort „Aufführung“, für die geprobt wird, falsch ist. Die Aufführung ist eine vorübergehende gebundene Form, versöhnend wie ein längst bekanntes Lied von Liebe, Tod und Untergang. Das Theaterereignis aber ist etwas anderes: die Produktion von Theater, das Phänomen, daß ein Ensemble, die Krakauer Gruppe Cricot, dafür lebt, die Obsessionen eines Mannes auszuagieren. Phantome entstammen dem Ich, dem persönlichen, historischen Ich. Und sie sind alle wieder da, in diesem Stück „Ich kehre nicht mehr zurück“: die staubbedeckten Soldaten der toten polnischen Armee, die Chassidim mit den Schläfenlöckchen, die Huren, die Kneipenwirte, die Priester, der Gehenkte. Das Stück geht durch alle anderen Stücke zurück bis zur „Rückkehr des Odysseus“, klandestin aufgeführt 1944, im besetzten Krakau. Phantome brechen in die Gegenwart ein und wollen zurück, an den Ort ihrer Herkunft. So sind auch die Gegenstände wieder da, die ihre Herkunft beschwören: die abgeschabten Schulbänke, die Folterbänke, das Fluchtgepäck, verschlissen, bis hin zu nutzlosen Resten ehemaligen Gebrauchs. Es sind keine Requisiten. Es sind „Assemblagen“, „Ready–mades“. Kantor betont es immer wieder, überflüssigerweise. Theater als Exhumierung der Materialien präsenter Vergangenheit. In der Tat herrscht neben der Hauptfarbe Schwarz ein angegilbtes Weiß, Kostüme wie aus verrotteten Mumienbinden. Phantome haben eine doppelte, sich widersprechende Tendenz: Wiederkehr und Rückkehr. Und hier liegt die Kraft, die Suggestion und Leistung des Theaters - diese doppelte Tendenz der Psyche zu entreißen, sie objektiv zu machen. Der Weg: die kollektive Recherche nach dem präzisen Rhythmus. So werden Abläufe - nein, nicht geprobt, sondern immer wieder entwickelt, bis zur erlösenden Präzision. Der zentrale Satz, der traumatische Kern des Stückes: der Tod des Vaters Marian Kantor in Auschwitz, 1944. Die Lautsprecherstimme: „Hiermit machen wir Ihnen bekannt, daß Marian Kantor am 24. Januar im vierundvierzigsten Jahr an Herzschlag gestorben ist. Gezeichnet, Sturmführer Rudolf...“ Das Crescendo des Lautsprechers bis zum kreischenden „Herzschlag“; dazu die Putzfrau/Dirne marionettenhaft vom Schrecken gejagt, die Puppe mit dem Genickschußapparat umkreisend; die aufspringende schwarze Tür vor schwarzem Hintergrund, gefüllt mit den geigenden Panzersoldaten; der Jude Szuml aus dem Stück „Wielopole, Wielopole“ (Kantors Heimatort), der immer gleich dirigiert, gehetzt vom namenlosen Schrecken, beherrscht von leidenschaftlicher Hingabe. Wie sich diese andrängende Wiederkehr der Phantome zu einem Theaterreigen auflöst, das macht die Proben zum Ereignis. Kantor betont in der Probe: „Trotz der öffentlichen Meinung, daß ich ein Diktator bin, berate ich mich bei den Schauspielern.“ Gewiß. Auch die Stücke entstehen mit den Schauspielern. Kantor nimmt auf, wie sie sich am besten entfalten können. Bei den Proben bezog er das Publikum ein, fragte ab, ob die Szene das aussage, was er wolle. Aber er bleibt Diktator, diktiert die Phantome, dirigiert ihr Erscheinen, nervös, wütend tanzt er ihre Bewegungen vor. Wo gibt es ein Theater, in dem der Autor auf der Bühne - nein, nicht nur mitspielt, sondern vorspielt? Ein immer wiederkehrender Eindruck der Proben, die oft über zehn Stunden dauern: Ein Ensemble von Marionetten, mit einem fast dinglichen Widerstand, wird von Kantor herbeizitiert. Ein Wutanfall unterbricht. Ein Teil der Marionetten stoppt, andere laufen fast mechanisch weiter. Das Entsetzen der Dirne, der namenlose Schrecken des Dirigenten, das Stampfen der Soldaten wird weiter agiert. Ironische Brechungen, bei denen man sich fragt, ob die Kantorschen Wutanfälle Teil der Inszenierung sind. Die Dirne legt das Maschinengewehr / Photoapparat auf den tobenden Kantor an. Protest? Schritte der Vergegenwärtigung? Dazu die Kommunikation des Ensembles auf polnisch, italienisch, deutsch und französisch (sechs Italiener gehören seit Jahren zur Truppe): „Dopo la mia seconda gestorben“ sollen die geigenden Panzergrenadiere erscheinen, erklärt Ludmila Ryba, die fantastische Dirne ihren Mitspielern. Und in diesem Chaos die lauschende Intensität von Kantor, der immer wieder mit einem „Nein, Nein“ aufspringt und seinen Marionetten vortanzt. Mühelos lassen sich Anklänge ans barocke Welttheater erkennen: der Theaterdirektor als Demiurg, als Gott, der die Rollen des Lebens ordnet. Einen anderen Sinn gibt es nicht. Aber es geht nicht mehr um die melancholische Heilsgeschichte gegenüber dem Leben, das nur eine Erscheinung der Vergängnis ist. Es geht um die freie Aneignung der Vergängnis. Das „Theater des Todes“ ist ein Theater des Überlebens. „Wir Polen haben Humor, nur deswegen haben wir die polnische Geschichte überlebt. In den kaputtesten Zeiten entstehen die besten Witze.“ Kantor will keine Erinnerung an den tragischen Tod seines Vaters, sondern er will den Zugang zur „Groteske dieser Zeit damals“. Er verachtet das Theaterpathos: „Wir gehen tiefer, durch den Humor, durch die Groteske, durch den Spott, dann kommt es von selbst, nicht das Bild (das man auf der Bühne sieht), sondern die Vorstellung (die der Zuschauer im Kopfe hat).“ „Der Tod ist ein Modell des Lebens“, sagt der Demiurg im Zeitalter der Massenvernichtung (und nicht das Leben ein Modell des Todes wie im barocken Katholizismus). So zielt das Theater aufs Lachen, das Lachen, das im Halse stecken bleibt, und das Lachen, das befreit. Und die Präzision der Abläufe, an denen Kantor unentwegt feilt, muß die Mitte zwischen beiderlei Lachen austarieren. Keine Frage, daß Kantor Glaubensbekenntnis, politische Aufgaben fürs Theater und sonstige Sinnangelegenheiten verachtet. Dem widerspricht nicht, wenn er zu einem alten chassidischen Lied, das den Ablauf seines Stückes bestimmt, erklärt: „Auch glauben wir an die Wiederkehr des Messias.“ Klaus Hartung Vorstellungen am 20., 23., 25. und 26. Mai um 22.30 Uhr in der Akademie der Künste in West– Berlin

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