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Sowjet–Historiker: Stalin gefährdete Frieden

■ Die Wochenzeitung Literaturnaja Gazeta veröffentlichte ungewöhnlich scharfe Abrechnung mit der Außenpolitik Stalins und Breshnews Mißtrauen des Westens gegenüber UdSSR sei begründet gewesen / Indirekte Kritik an Gromyko, der bis 1985 als Außenminister tätig war

Moskau (rtr) - In einem auch für heutige Verhältnisse ungewöhnlich scharfen Artikel hat ein sowjetischer Historiker die Außenpolitik seines Landes seit Stalin verurteilt. Sowjetisches Hegemonial– und Großmachtstreben habe jahrzehntelang immer wieder den Frieden in der Welt gefährdet, schrieb Literaturnaja Gazeta. Noch in den siebziger Jahren habe die Unfähigkeit des Parteichefs Leonid Breschnew die Ost–West– Konfrontation Anfang der Achtziger ausgelöst. Der Westen habe über Jahrzehnte hinweg allen Grund gehabt, Entspannungsbeteuerungen zu mißtrauen. Der Artikel ist die erste umfassende Abrechnung mit der Außenpolitik der UdSSR seit dem Zweiten Weltkrieg, die einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich ist. Er ist umso bemerkenswwerter, als er eine scharfe indirekte Kritik an Staatspräsident Andrej Gromyko darstellt, der von den fünfziger Jahren bis zu seiner Ablösung unter Parteichef Michail Gorbatschow 1985 ununterbrochen Außenminister war. Daschitschew brach mit dem Dogma, die sowjetische Außenpolitik seit Stalin als wissenschaftlich fundiert und unumstößlich korrekt zu betrachten. Zwar entließ er den „westlichen Imperialismus“ nicht aus der Mitschuld an Krisen und Konflikten. Aber er schrieb: „Die hegemonialen Großmachtambitionen des Stali nismus, die sich in unserer Außenpolitik festgesetzt haben, haben oft die politische Balance zwischen verschiedenen Staaten gefährdet, und das besonders zwischen Ost und West.“ So habe der Westen Grund zu der Annahme gehabt, daß die Sowjetunion die Entspannungsphase der Siebziger Jahre zum Ausbau ihrer militärischen Stärke genutzt habe. Die Ausweitung des sowjetischen Einflusses in Afrika, im Nahen Osten und anderswo habe den vietnam–geschädigten USA weiteren Grund zur Besorgnis geliefert. „Die Ausdehnung der sowjetischen Einflußsphäre erreichte in den Augen des Westens eine kritische Grenze mit der Entsendung sowjetischer Truppen nach Afghanistan.“. Es habe kein klares Konzept der Ziele und Interessen der UdSSR gegeben, kritisiert Daschitschew. Sicher könnten sich die nicht darin erschöpfen, billige Triumphe mit Staatsstreichen in ein paar Entwicklungsländern zu feiern. Die Wurzel allen Übels macht der Geschichtsprofessor, zu dessen Person und Funktion die Literaturnaja Gazeta nichts näheres mitteilt, in Stalins Politik aus. So hätten die Westmächte der Sowjetunion schon damals mißtraut, weil der Diktator seine Generäle während der Säuberungen beseitigt habe und die UdSSR daher militärisch nicht als zuverlässiger Partner erschienen sei. Überdies sei es dem Westen schwer gefallen, mit einem Mann zu kooperieren, „der alle menschliche Moral mit Füßen trat, und der grausame, kriminelle Methoden benutzte, um seine autoritäre Herrschaft zu festigen“. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe Stalin seine Art von Sozialismus auszubreiten versucht, wo immer es ging, ohne sich um natio nale Besonderheiten zu scheren. Er habe alles daran gesetzt, die Sowjetunion zur Befehlszentrale zu machen. Jugoslawien sei 1948 nur deshalb verdammt worden, weil es sich Stalin nicht habe unterwerfen wollen. Auch der Bruch mit China und Albanien sei teilweise durch Fehler der Sowjetunion verschuldet worden. Daschitschews Kollege Merzalow stellte in der Zeitung Sozialistische Industrie fest, daß sich die sowjetische Historiographie über den Zweiten Weltkrieg (“Großer Vaterländischer Krieg“) bisher um wesentliche Fragestellungen herumgemogelt habe. Nicht durch, sondern trotz Stalin sei der Sieg errungen worden, meinte Merzalow. Siehe auch Gastkommentar S. 5

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