piwik no script img

Das Wunder von Cannes

■ Bombay in Echtzeit

Wenn dieser Artikel erscheint, sind die Preise schon bekannt, nicht aber „jetzt“. So bleibt mir nur zu wünschen übrig: Wenn ich die Jury wär, ginge die Goldene Palme an einen englischen Film - entweder an Chris Menges Südafrikafilm A World Apart (s. taz vom Samstag) oder an Peter Greenaways skurriles Zählwerk Drowning by Numbers. Beide Filme gehören zu den schönsten und intelligentesten des Festivals. Der unschönste, Kieslowskis Kurzer Film über das Töten, kriegt vielleicht einen Preis - aber bestimmt nicht die Goldene Palme, dazu ist er zu radikal. Einer der grandiosesten Filme des Jahres hat 800.000 Dollar gekostet und lief nicht im Wettbewerb, sondern in der „Quinzaine des Realisateurs“: Salaam Bombay, der erste Spielfilm der indischen Regisseurin Mira Nair, erzählt in einer ganz lockeren, immer aber völlig beherrschten Struktur weniger die Geschichte als einen Ausschnitt aus dem Leben des vielleicht zehnjährigen Krishna - wie es ihn nach Bombay verschlägt und er sich einer Gruppe von Straßenkindern anschließt, seine Beziehungen zu den anderen Kindern, und zu den Erwachsenen, Zuhältern, Kioskbesitzern, Prostituierten, Dealern und Süchtigen. Das wunderbare ist, daß keine einzige dieser Figuren, bei aller scharf gezeichneten Charakteristik, je zur Charaktermaske wird. Nirgends wird Mira Nair mitteilsam; daß die Lebensbedingungen der Straßenkinder unwürdig sind, erfährt man en passant. Mira Nair will nur eins: sehen. Das allerdings hat sie in jahrelanger Vorbereitung generalstabsmäßig organisiert (geholfen haben ihr dabei ihr Ehemann Mitch Epstin, Fotograf, und die Drehbuchautorin Sooni Tarporevala). Nur durch diese extreme Genauigkeit und Detailbesessenheit konnte Mira Nair Salaam Bombay so leicht und durchlässig fügen, daß man als Zuschauer durch den Film gewissermaßen flanieren kann wie durch Bombay in Echtzeit - und unter den schrillen Farben und Tönen und der Härte des Überlebenskampfes, die sich dem Blick zuerst präsentieren, entdeckt man ein unendlich reiches Netzwerk von ganz individuellen Sehnsüchten, Projektionen, Gesten und Augenblicken. Hoffentlich findet Salaam Bombay einen deutschen Verleiher. Thierry Chervel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen