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Entkalkungskur in Budapest

■ Auf der außerordentlichen Konferenz der Kommunistischen Partei Ungarns ging die Ära Kadar zu Ende

Das Erstaunlichste, was die dreitägige Konferenz vom Wochenende den Zuschauern bot, war gar nicht die Ablösung des 76jährigen Parteichefs Janos Kadar und ein geheim gewähltes, komplett neu formiertes Politbüro. auch wenn die kleine Rebellion der selbstbewußt gewordenen Mitgliedschaft an der entscheidenden Stelle wieder unter den Teppich des vorformulierten Schlußdokuments gekehrt wurde. Das Durchschnittsalter im neuen elfköpfigen Politbüro, in dem auch zwei Frauen vertreten sind, liegt zum erstenml unter fünfzig Jahren.

Es war schon ein kleiner Aufstand gegen die lokalen und nationalen Parteifürsten, was sich in diesen drei Tagen im Budapester Konferenzsaal der Gewerkschaftszentrale abspielte. Da trugen die Delegierten Klagen und Kritiken vor, die ein realistisches Bild der Situation von Partei und Land gaben. Da wurde offen über Funktionäre geredet, die mit ihrem aufwendigen Lebensstil die Partei moralisch diskreditierten; da ging es um die ungarischen Arbeiter, die am Ende ihrer Geduld angekommen sind, weil sie trotz zwölf bis vierzehn Stunden Arbeit und mehrerer Nebenjobs ihre Familien kaum noch ernähren können; da wurde beklagt, daß die alte Arbeitslosigkeit auf dem Land und die neue in der Stadt ganze Regionen sterben und Stadtbezirke veröden lassen. Angesichts der rebellischen Stimmung gab sich die Parteiführung größte Mühe, die demokratischen Spielregeln von Wortmeldungen, Anträgen und Abstimmungen einzuhalten. Doch als es dann um das entscheidende Schlußdokument ging, zeigte sich, wie gering immer noch ihre Fähigkeit ist, mit abweichenden Ansichten umzugehen. Der Antrag auf eine grundlegende Verfassungreform wurde gar nicht erst abgestimmt, Parteiideologe Berecz brauchte nur darauf zu verweisen, so etwas sei doch Sache des (in Wirklichkeit einflußlosen) Parlaments. Und als gar der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Robert Hoch auf seinem Antrag bestand, in Zukunft sollten organisierte Gruppen in der Partei mit eigenen „Plattformen“ zugelassen werden, sprang Janos Kadar hochstpersönlich von seinem Platz auf. Als ob er kleine Kinder vor sich hatte, rief er den Delegierten zu, sie sollten doch diesen Unsinn bitte lassen. Das Präsidium parierte und strich den Antrag. Eine Gruppe Delegierter ließ beinahe einen Hauch von „Prager Frühling“ aufkommen, plädierte für eine ernsthafte Erneuerung von Partei und Gesellschaft. Dagegen stritten zahlreiche Konser vative: Sie malten aus, wie sich die wirtschaftliche Lage gerade der Arbeiter in den Großbetrieben verschlechtert habe - allein die Steuerreform von Ministerpräsident Grosz zu Jahresbeginn hatte mit der neueingeführten Mehrwertsteuer zu einem Inflationsschub von rund 20 Prozent geführt. Und, so klagten sie, der ideologische Begriff der „Arbeiterklasse“ werde immer weniger hochgehalten. Nötig sei jetzt wieder eine konservative Wende und die starke Hand der Parteiführung. Nicht gerade eine Wende, aber doch die Fortsetzung des alten Kompromisses, der mit dem Namen „Kadarismus“ verbunden ist, wollte der alte Parteichef noch einmal versuchen. In seiner farblosen Eröffnungsrede stellte er sich zwar hinter alle Forderungen nach mehr Wirtschaftsreform, die heute in Ungarn schon zu Allgemeinplätzen geworden sind. Doch auf dieser rebellischen Konferenz nahmen sich seine Erklärungen doch sehr rückwärtsgewandt aus. Er betonte die Kontinuität der Parteipolitik seit 1957, machte die Bewahrung der führenden Rolle der Partei zum Maßstab von Gut und Böse und beklagte nach alter Manier die in– und ausländische Subversion. In solchen Momenten zeigte sich, daß Kadar den neuen Geist, der hier aufkam, nicht verstehen kann oder aus Sturheit nicht verstehen will. Daß er dann noch - wenn auch ohne Namen zu nennen - die gerade gegründeten unabhängigen Initiativen einer Wissenschaftlergewerkschaft und der Jugendorganisation FIDESZ als „Spaltungsversuche“ abtat, dürfte ihn bei vielen der Delegierten weiter diskreditiert haben. Schließlich leistete er sich noch, die Forderung der meisten Parteimitglieder nach mehr Mitsprache damit zu beantworten, daß er für eine Stärkung des ZK plädiere. Freilich, Delegierte und Zuhörer bekamen dann auch noch eine Kostprobe davon, was die Persönlichkeit dieses Mannes ausmacht und was ihn zur Symbolfigur der Ära nach 1956 gemacht hat. Zum Abschluß der Diskussion über das Schlußdokument hielt er seine letzte Rede als Parteichef, frei und ohne Manuskript. Und da war er wieder ganz der alte, der joviale Kaiser Franz–Joseph, der sich mit väterlicher Güte seinen Untertanen zuwandte. Er erzählte volkstümliche Witze wie in seinen besten Zeiten und versuchte noch einmal, die Ungarn gegen ihre eigenen „schlechten Eigenschaften“ zu mobilisieren: gegen die Unselbständigkeit, den Glauben an die Obrigkeit. Und damit jedenfalls dürfte er vielen im Land aus dem Herzen gesprochen haben. Krisztina Koenen /mr

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