: Reale Verzweiflung und leiser Stolz Der Festakt zum 125jährigen Bestehen der SPD im Berliner Reichstag glitt leicht und glatt durch die Programm-Punkte / Videoclips-Ästhetik bei der Geschichtsbewältigung / Allein Anke Fuchs fand auf den Bod
Aus Berlin Klaus Hartung
Die Generationen linker Historiker der Arbeiterbewegung hätten sich ganz schön heimatlos gefühlt, wären sie Teilnehmer dieses sozialdemokratischen Festaktes im Reichstag gewesen, so glatt und leicht glitt die neue Parteiästhetik durch die Programmpunkte. Gesang, Rezitation, Dokumentarfilm-Zitate, Bildcollagen, Reden - hier hat das „Kulturforum“ in der Ära Glotz erfolgreich Formen entwickelt, in denen sich post-moderne Heiterkeit mit Traditionsgenuß verschmelzen. Ein „Bildvlies“ von Hella Santarossa („125 Jahre SPD“) bedeckte die gesamte Front des Reichstagssaales. Viel Rot hatte die „Impressionistin“ unter den „Wilden“ verwandt, mit zwei schwarzen Passagen: 1914? 1933? Davor die Traditionsfahne der Breslauer Parteiorganisation, 1945 aus der Zone geschmuggelt. Bebel, der „naturbegabte Redner, dem jeder in diesem Hause zuhörte“. Zitat aus „Die Frau und der Sozialismus“ vom „letzten sozialen Kampf“ und von der Hoffnung, daß mit der Arbeiterbewegung ein Kulturfortschritt dem anderen folgen werde. „Der Unverstand der Massen, der durch des Geistes Schwert durchschnitten wird“: die „Arbeiter-Marseillaise“. Lassalles „Arbeiterprogramm“ wird zitiert, wonach der Zweck des Staates sei, das Individuum fortzuentwickeln. „Den Staat unter die Idee des Arbeiterstandes stellen“. Bildfolgen von der Arbeitswelt im 19. Jahrhundert. Der starke Arm blitzt auf. Sozialdemokratischer Staat und Arbeiterbildung, Grundbestandteil einer gefriergetrockneten Tradition. Aber eine zarte Neigung zu Bebel ist nicht zu übersehen. Rau spricht frei von der „Partei der offenen Tür“, aber warum spricht er nur von den „sogenannten Intellektuellen“? Der erste Weltkrieg, jetzt fangen die Bilder zu rasen an, und so blitzt auch Rosa-Luxemburg einmal auf. Die Partei konnte die Weimarer Republik nicht zusammenhalten. Die antidemokratischen Kräfte, die Bilder von Nazis, von Rotfront blitzen auf.
Schnitt, wir sind beim Ermächtigungsgesetz 1933. Der mäkelnde linke Historiker mag jetzt feststellen: der Revisionismus-Streit nicht erwähnt, nicht die Bewilligung der Kriegskredite, nicht die Revolution 1918. Aber die Melancholiker der gespaltenen Arbeiterbewegung, die ihr Noske/Zörrgiebel-Syndrom nicht losbekommen, sind nicht geladen. Natürlich erwartet niemand Selbstkritik, ohnehin keine sozialdemokratische Methode, warum sollte sie auch gerade an diesem Tage aufbrechen? Dennoch: diese Videoclip -Ästhetik der Geschichtsbewältigung hinterläßt doch Zweifel an dem Desiderat der Redner Brandt und Vogel, wonach die Parteitradition nur kritisch angeeignet werden dürfe. Der Brandt-Satz, der über dem Festakt schwebte, wonach die Sozialdemokratie auf jeden Fall eines nicht dem deutschen Volk gebracht hätte, nämlich Krieg und Diktatur, löscht dann doch nicht Erinnerung an die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914.
1933 also. Otto Wels‘ berühmte Reichtstagsrede. Die Widerstandstradition. Hier paßte Dieter Hildebrandts Spruch (die Festakt-Daramaturgie hatte Prominentenglückwünsche von Peter Ustinov bis Elke Heidenreich eingeblendet): er betonte, allein die SPD und die KPD hätten nach 1945 den Parteinamen nicht ändern müssen. Doch die Kommunisten waren allein als Opfer-Genossen zitierbar. Eine kritische Anmerkung gab es allerdings in diesem Geschichtsvideo: als eine Schumacher-Rede aus den 50er Jahren zitiert wurde, kam der Hinweis, es sei der Ton der damaligen Zeit. Hier sprach die Symbiose Agitator/Masse, Pathos der Wiedervereinigung und Antikommunismus.
Der Hauptredner Brandt, der sofort anschließend auftrat, war ein Anti-Agitator. Tonlage: kritische Besinnung und leiser Stolz. In der Tat hat keine andere Partei heutzutage eine Figur, bei der Leute zur genauen Exegese zarter Andeutungen bereit sind. Und Brandt arbeitete damit. Er entwikkelte die sozialdemokratische Zukunft aus dem Horizont welthistorischer Katastrophen: „Frieden ist zur elementaren Voraussetzung geworden, daß es weiterhin Geschichte gibt.“ Plädoyer für einen politischen Konsens „weit über die eigenen Grenzmarken hinaus“, Plädoyer für eine SPD, die mehr ist als eine Sozialstaatslobby. Erstaunlicherweise war es aber Anke Fuchs, die die Realität der existierenden SPD formulierte. Sie gab zu, daß es auch Verzweiflung über die Partei gebe. Die Notstandsgesetze erwähnte sie und das Parteimilieu, das Dissens nicht erträgt. Keine große Rede, aber auf dem Boden der Wirklichkeit. Das konnte aber das Bild nicht ändern. Insbesondere die Berliner Sozialdemokraten waren glücklich, eine Partei zu erwähnen, die sie zu Hause gar nicht mehr kennen, wo in Berlin Momper und Pagels sich kläffend ums Revier streiten. Beim anschließenden Empfang strichen die Streithähne mit Dauerlächeln umeinander.
Rücknahme
Bonn (dpa) - Der SPD-Vorstand will den Beschluß über die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in der SPD und im ehemaligen Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) aufheben. Wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) erfuhr, soll dieser Beschluß vom November 1960 auf der Sitzung des SPD -Vorstands am Montag und Dienstag in Bonn als „gegenstandslos“ erklärt werden.
In der Begründung für die Aufhebung, heißt es: Die SPD wolle die „kritische Intelligenz“ der Bundesrepublik zu einem Dialog über die Zukunft einladen.
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