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Lob des Niemandslandes

■ Ein Plädoyer für die Verbreiterung der Mauer über ganz Europa hinweg

Harry Mulisch

Lob des Niemandslandes

Ein Plädoyer für die Verbreiterung der Mauer über ganz Europa hinweg

Meine Urgroßeltern väterlicherseits stammen aus Sachsen und Bayern. Mein Großvater wurde in Graslitz, heute Kraslice, Tschechoslowakei geboren, meine Großmutter in Erfurt. Sie heirateten in Prag. Mein Vater wurde in Gablonz, heute Jablonec/Tschechoslowakei geboren. Er wuchs in Bielitz, heute Bielsko/Polen auf. Er studierte in Wien. Als österreich-ungarischer Berufsoffizier schoß er im 1. Weltkrieg im Osten auf Russen, im Süden auf Italiener und im Westen auf Franzosen, Engländer, Amerikaner und was sich dort sonst noch zeigte. In Antwerpen lernte der hocharische Artillerieoffizier die zehnjährige Tochter einer jüdischen Familie kennen, bei der er einquartiert war. Dieses Mädchen, neun Jahre später meine Mutter, war in Antwerpen geboren, ohne jedoch Belgierin zu sein. Ihre Großmutter väterlicherseits stammte aus Zala-Egerczeg, heute Ungarn; ihr Vater, mein Großvater also, aus Wien. Nach dem Krieg mußte diese Familie aus Belgien fliehen und ließ sich in Amsterdam nieder. Mein Vater ging nach Wien zurück, wo er nun plötzlich die tschechische Nationalität besaß. Sein Vater war mittlerweile gestorben, und als seine Mutter in Wiesbaden starb, emigrierte er nach Holland. Dort ließ er seine Verlobungsanzeige in Französich, seine Heiratsanzeige in Deutsch drucken, und dann - man höre und staune - wurde ich in Haarlem als tschechisches Kind geboren.

Ich fühle mich mit dem Ort meiner Herkunft verbunden: mit Haarlem, meiner Vaterstadt, den Wäldern und Dünen der Umgebung, und mit Amsterdam, meiner Mutterstadt, wo ich seit dreißig Jahren wohne. Mein Leben ist niederländisch; aber in der Geschichte, deren Produkt ich bin, befindet sich nichts Niederländisches.

Kurz: Nur Europa als Ganzes kann mein Vaterland sein. Und das haben Leute wie ich mit den Mitgliedern dieser internationalen königlichen Familie gemein, die in Europa jahrhundertelang die Trennung zwischen den Völkern aufrechterhalten konnten, die sie besaßen und zu denen sie selbst kaum gehörten. Ihr „wir“ war nie an Orte gebunden. Die Anrede lautete immer „Lieber Neffe“, wenn der Zar aller Russen und der deutsche Kaiser und der König von England miteinander korrespondierten; „Geliebte Mama“ schrieb die Königin von Frankreich an die Kaiserin von Österreich. Es geht also.

Es gibt jedoch nicht nur die vielen Länder, es gibt darüber hinaus noch die beiden Blöcke - wie im sechzehnten Jahrhundert den katholischen und den protestantischen. Die Existenz dieser beiden Blöcke ist die ungewollte Schöpfung Adolf Hitlers; Sinnvoll genug geht sie genau über die Stelle, wo dieses Wesen endlich Hand an sich selbst legt. Die Mauer ist das Stein gewordene Problem - gleichzeitig aber enthält sie die einzig denkbare Lösung.

Sie besitzt nämlich eine bestimmte Stärke. Der Bereich des östlichen Systems, mit seinem Machtzentrum in Moskau, endet an der östlichen Seite der Mauer; der Bereich des westlichen Systems, mit seinem Machtzentrum in Washington, endet an der westlichen Seite. Dort können die Westler zum Beispiel Verwünschungen darauf schreiben, ohne von den Ostlern daran gehindert zu werden, denn es passiert ja gerade auf der anderen Seite. Welchen Status aber hat nun der Raum, den die Mauer selbst einnimmt? Sie bildet die Grenze zwischen Moskau und Washington, doch als diese Grenze untersteht sie weder Moskau noch Washington. Es steht also außer Frage, was von uns Europäern erwartet wird. Wir sollten die Mauer nicht abbrechen, sondern sie im Gegenteil verbreitern. Wir müssen von beiden Seiten in die Mauer hineinkriechen und den Beton aushöhlen. Danach müssen wir listig, unauffällig, behutsam, Schritt für Schritt, aber fest entschlossen, die Mauer immer breiter machen: die Westseite weiter in den Westen schieben, bis zum Atlantischen Ozean, und die Ostseite bis an die Grenze der Sowjetunion. Dann sind wir dort angelangt, wo wir hin wollen, denn dann ist Groß-Europa selbst die Mauer zwischen den Supermächten geworden, ohne zu einer von ihnen gehören zu müssen.

Auf ihrer Seite dürfen sie dort dann auf Englisch und Russisch darauf schreiben, was sie wollen. Und wenn sie sich gut benehmen und ihre Skepsis über ihre eigene Auserwähltheit größer geworden ist, dürfen sie im Lauf der Zeit sogar unserer Gesellschaft beitreten - denn wir werden natürlich nie vergessen, daß wir beiden unser aller Befreiung vom Faschismus zu verdanken haben.

Übersetzung von Rosemarie Still

Das Attentat (Roman, Hanser-Verlag)

Höchste Zeit (Roman, Hanser-Verlag)

Strafsache 40/61 - Eine Reportage über den Eichmann-Prozeß (Edition Tiamat Verlag Klaus Bittermann)

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