Gerichtsprozeß als Gütesiegel

■ Für Chiles Presse gilt: Je mehr Redakteure vor Gericht stehen, desto besser die Zeitung / Der Fall Analisis : Wegen eines Artikels über dubiose Geschäfte der Streitkräfte wurde der Chefredakteur Cardenas ver

Gerichtsprozeß als Gütesiegel

Für Chiles Presse gilt: Je mehr Redakteure vor Gericht

stehen, desto besser die Zeitung / Der Fall „Analisis“:

Wegen eines Artikels über dubiose Geschäfte der Streitkräfte wurde der Chefredakteur Cardenas verschleppt und vor Gericht gestellt / Ein Interview mit dem bekanntesten

oppositionellen Publizisten Chiles

Die Festnahme spielte sich in aller Öffentlichkeit ab. Drei Autos ohne Nummernschilder preschten vor, heraus sprang ein Dutzend schwerbewaffneter Männer, alle in Zivil, und nahm den Mann fest - unter den surrenden Kameras eines BBC-Teams. Dieses drehte im Zentrum Santiagos gerade einen Film über das Leben des festgenommenen Juan Pablo Cardenas, Chefredakteur der oppositionellen Zeitschrift „Analisis“ und bekanntester Publizist Chiles. Das Leben von Cardenas spielt sich zur Zeit zu drei Vierteln in der Redaktion und zu einem Viertel - zwischen zehn Uhr nachts und sechs Uhr morgens im Gefängnis ab. Ein chilenisches Gericht verurteilte den Journalisten letztes Jahr zu 541 Tagen „nächtlicher Einschließung“ - wegen mehrfacher Beleidigung des Staatschefs, Diktator Augusto Pinochet.

Die BBC-Reporter fuhren am Mittwoch vergangener Woche dem festgenommenen Cardenas sofort hinterher, bis sie die drei Autos im Hauptquartier der Kriminalpolizei verschwinden sahen. Da die Polizei zunächst jegliche Festnahme bestritt, schlugen die Familienangehörigen, Freunde und Kollegen des Journalisten Alarm. Sie hatten allen Grund zur Angst. Im September 1986 war ein Jose Carrasco, Chef der Auslandsredaktion derselben Zeitschrift, auf eine ähnliche Weise verschleppt worden. Drei Stunden später wurde er von Kugeln durchsiebt aufgefunden. Das Gesicht war dermaßen entstellt, daß er nur über Fingerabdrücke identifiziert werden konnte.

Um Mitternacht konnten die Angehörigen von Cardenas aufatmen. Nicht, weil der Journalist schon frei war, sondern weil die Polizei die Verhaftung zugab und damit die Gefahr des „Verschwindenlassens“ fürs erste gebannt war. Cardenas wurde noch in der Nacht zum Donnerstag in die Hafenstadt Valparaiso überführt, wo die Marinejustiz gegen ihn ein Verfahren wegen Beleidiung der Streitkräfte eröffnet hat. Corpus delicti: der Artikel, den die taz auf dieser Seite in gekürzter Form veröffentlicht. Auch der Autor des Artikels, Ivan Badilla, sowie die Chefin der Inlandsredaktion, Maria Eugenia Camus, wurden vor den uniformierten Kadi zitiert. Während Cardenas am vergangenen Montag - zumindest tagsüber

-wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, sitzt Badilla noch immer im Gefängnis.

„Analisis“ ist nicht nur publizistisch, sondern auch juristisch ein Renner. Von insgesamt 28 Journalisten, die zur Zeit in Chile vor Gericht stehen, arbeiten zehn bei der Zeitschrift von Cardenas. Allein gegen die Starjournalistin Monica Gonzales laufen drei Verfahren. Das erste wegen ihres Buches „Bombe in der Palermos-Straße“, das vom Mordanschlag auf einen christdemokratischen Politiker in Rom handelt. Das zweite handelte sie sich ein, als sie den chilenischen Politiker Andres Zaldivar nach seiner Meinung über General Pinochet fragte. Die Antwort brachte nicht dem Christdemokraten, sondern der Journalistin eine Klage wegen Beleidigung ein. Ebenfalls beleidigt fühlten sich die Herren in Uniform, nachdem Monica Gonzales die schwer gefolterte Deutsch-Chilenin Karin Eitel nach ihren Erfahrungen in der Haft befragt hatte.

Die Chefredakteure sämtlicher oppositioneller Print-Medien Chiles werden ausnahmslos gerichtlich belangt. Sergio Marras, Chefredakteur der Zeitschrift APSI zum Beispiel wegen eines Comics, der den „Oberkommandierenden des Heeres“ (Pinochet) beleidigt. In einem zweiten Verfahren muß er sich wegen eines Leitartikels, der „Die Helden der Moneda“ (Präsidentenpalast) übertitelte, verantworten. Er ging darin auf die Verwicklung des chilenischen Geheimdienstes in den Mord am ehemaligen Außenminister Letelier ein. Als Marras zum zweiten Mal seine Haft antrat, wurde der Anwalt Mario Papi festgenommen. Er hatte in der konservativen Tageszeitung „Ultimas Noticias“ kritisiert, daß man den APSI -Chef nicht gegen eine Kaution freigelassen habe.

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taz: Welche Bedeutung ist der oppositionellen Presse unter der Diktatur bisher zugekommen?

Juan Pablo Cardenas: Zum demokratischen Kampf hat sie wohl mehr beigetragen als die politischen Parteien und die traditionellen Organisationen. Aber unsere Wirkung ist begrenzt. Unserer Presse gelingt es nicht, die breiten Massen des chilenischen Volkes zu erreichen, aber sehr wohl die führenden Kreise der politischen und gesellschaftlichen Opposition. Gerade deshalb waren wir in jüngster Zeit oft Opfer repressiver Maßnahmen. Gegen zahlreiche Journalisten laufen heute Verfahren vor den ordentlichen und den Militärgerichten. Jeden Tag erhalten Journalisten Todesdrohungen. Und als große Drohung schwebt auch der Artikel acht der Verfassung über der Presse (der es verbietet, „Lehren zu verbreiten, die sich gegen die Familie richten, Gewalt oder eine Auffassung der Gesellschaft, des Staates oder der juristischen Ordnung totalitärer oder auf den Klassenkampf gestützter Art befürworten“, A.d. Red.). Das hat zu einer starken Selbstzensur geführt. Die Presse läuft Gefahr, vor Gericht zitiert zu werden, Geldbußen zahlen zu müssen. Das kann bedeuten, daß diese Presseerzeugnisse nicht mehr erscheinen können.

Kommen wir auf Ihre persönliche Situation zu sprechen...

Ich glaube, ich habe mich nicht brechen lassen, das ist mir selbst eine große Befriedigung, ich habe den Mut nicht verloren und ich habe nicht auf das verzichtet, was ich für meine berufliche und politische Pflicht halte. Viele glaubten nicht, daß ich nach Chile zurückkehren würde, als ich im Ausland von diesem Urteil (541 Tage lang nächtliches Einsperren) erfuhr. Doch ich kehrte zurück. Andere glaubten nicht, daß ich weiterhin Chefredakteur sein würde. Und wieder andere glaubten, daß ich mit meiner wöchentlichen Kolumne aufhören würde. Aber ich tat es nicht. Wenn einer für die Freiheit und gegen die Diktatur kämpft, verwandeln sich Urteile und Strafen in Ehrbezeugungen. Ich habe nie die geringste Scham oder Sorge über eine solche Strafe gespürt.

Was bedeutet es für Sie, tagsüber in der Redaktion zu arbeiten und sich dann nachts um Viertel vor zehn von den Freunden zu verabschieden, um ins Gefängnis zu gehen?

Jeden Abend ins Gefängnis zu gehen, heißt jeden Abend in ein anderes Land einzutreten, sich auf die Strafbevölkerung, auf etwa 300 Häftlinge einzulassen. Im allgemeinen sind sie dort wegen sogenannt gewöhnlicher Delikte, aber meiner Ansicht nach sind auch diese Gefangenen Opfer des herrschenden Systems. Ich habe sehr viele Leute getroffen, die aus Hunger Delikte begehen mußten, um zu überleben. Viele sind auch im Gefängnis, die man des Handels oder der Herstellung von Drogen bezichtigt hat, um von den wirklichen Verantwortlichen abzulenken. Wir wissen, daß diese Geschäfte im wesentlichen vom Geheimdienst, ja sogar von Richtern und Polizei betrieben werden. Ich habe schuldige und unschuldige Leute getroffen, aber letztlich sind sie alle Opfer der repressiven Ordnung. Ich hatte auch die Gelegenheit, mich mit einigen sogenannten politischen Gefangenen zu treffen. Es sind Leute, die mit andern Waffen als denjenigen des Journalismus gekämpft haben, aber sie waren dabei tüchtiger, entschiedener und zu mehr Opfern bereit als wir. In Chile gibt es viele Gefangene, die man für „subversiv“ hält und die nichts anderes begangen haben als für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Sie haben es auf eine radikale Art getan, manchmal haben sie auch zu Gewalt gegriffen, aber sie haben es mit einer enormen Liebe zu Chile getan.

Haben Sie keine Angst, umgebracht zu werden?

Ich habe oft eine beklemmende Angst vor dem Tod gehabt, oft Angst um meine Familie und mich selbst. Jeden Morgen, wenn ich um sechs Uhr das Gefängnis verlasse, befällt mich eine gewisse Unruhe. Es könnte mir ja etwas zustoßen, wenn ich zu dieser Morgenstunde allein durch die Straßen gehe. Aber letztlich lernt man dann, über die Angst die Angst zu überwinden, sowie der Schmerz einen lehrt, den Schmerz zu besiegen. Das Gespräch führte Isabel Lipthay