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Fremd ist die Fremde nur in der Nähe

■ Wo liegen die Brüche zwischen Erfahrung, Erkenntnis und Erinnern? / Fabrizia Ramondino vergleicht ihren Roman Althenopis über ihre Kindheit in Neapel mit einem großen labyrinthischen Haus. Mit der Sc

Fremd ist die Fremde nur in der Nähe

Wo liegen die Brüche zwischen Erfahrung, Erkenntnis und

Erinnern? / Fabrizia Ramondino vergleicht ihren Roman

„Althenopis“ über ihre Kindheit in Neapel mit einem großen labyrinthischen Haus. Mit der Schriftstellerin unterhielten sich Brigitte Classen und Ulrike Haß

Brigitte Classen: Dein Roman „Althenopis“ trägt den Untertitel „Kosmos einer Kindheit“. „Althenopis“ bedeutet wörtlich übersetzt „Altenauge“. So wurde Neapel von den deutschen Nationalsozialisten während der Besestzung im Zweiten Weltkrieg genannt. Dort beschreibst du Kindheit und Jugend sehr rationalisiert. Man hat so gelebt und kann es hinterher auch erklären, auch das, was vielleicht nicht gelebt ist. Mir geht es darum zu erfahren, worin das Nichtgelebte steckt.

Fabrizia Ramondino: Ich betrachte dieses Buch als eine große labyrinthische Wohnung, in der viele Zimmer geschlossen geblieben sind. Auch im Blaubartmärchen gibt es ein Zimmer, das nicht geöffnet werden darf.

Brigitte Classen:In allen Märchen gibt es Verbote: Den Apfel darf man auch nicht essen. An das eigentliche Wissen kommt man nicht heran. Und wenn man es schafft, ist eine Botschaft darin, die man nicht braucht. Bei deinem Buch hatte ich die Vorstellung, daß doch etwas ist.

Fabrizia Ramondino: Ich habe Erzählungen geschrieben, die noch nicht übersetzt sind. Für mich sind sie wie Zimmer, einige Zimmer in diesem Haus, die geschlossen waren und geöffnet wurden. In meinem Roman gibt es Lücken. Von den ersten sieben Jahren wird nichts erzählt. Wir alle wissen, wie wichtig sie sind für die Bildung der Persönlichkeit. Dann gibt es eine weitere Lücke: Von dem Tod des Vaters wird kaum gesprochen. Die dritte Lücke ist meine Erfahrung im Ausland. Dann gibt es etwas nach dem Tod der Mutter, über das ich auch nicht geschrieben habe.

Brigitte Classen: Die Möglichkeiten der Vertrautheit, so fern sie sein mögen, sind doch die Vertrautheiten der Familie. Wenn du über Deine Großmutter sprichst, hat das eine ungeheure Nähe, obwohl die Distanz da ist. Als Kind machst du die Erfahrung, Wissen zu lernen. Das geht auch in den Bereich der Sexualität hinein, in die Fremdheit der Körper, deren Nähe deutlich ist.

Ulrike Haß: Du meinst, daß die Erfahrung als Erfahrung aufgeschrieben ist? Nicht als hinterher analysierte Erfahrung?

Fabrizia Ramondino: Manchmal ist die Erfahrung analysiert, manchmal direkt.

Ulrike Haß: Als die Großmutter stirbt, fällt der Satz „in dem Haus, das zum Verkauf stand“. Dieses „das zum Verkauf stand“ klingt wie die Analyse einer erwachsenen und denkenden Person.

Fabrizia Ramondino: Ich bin nicht ganz einverstanden. Es war eine tragische Erfahrung für uns Kinder. Dazu muß ich sagen, daß meine Großmutter 14 Tage vor meinem Vater starb. Meine Mutter kam aus Frankreich nach Neapel, weil meine Großmutter im Sterben lag in diesem Haus, das zum Verkauf stand. Innerhalb von 14 Tagen ist alles passiert. Meine Mutter war da, Großmutter starb, nach dem Begräbnis ist der Bruder meines Vaters an einem Herzinfarkt gestorben. Der Vater hatte Angina Pectoris und ist nach einer Woche gestorben. So haben wir in 14 Tagen die Großmutter, den Vater und den Onkel verloren. Und dann sind wir in dieses Haus gegangen, wo vor einem Monat die Großmutter gestorben war, das zum Verkauf stand. Das ist nicht der Satz einer nachdenklichen und erwachsenen Person. Er ist ganz aus der Erfahrung der Zeit.

Brigitte Classen:Dennoch ist zwischen den Sätzen, die du schreibst, ein Bruch.

Fabrizia Ramondino: Das ist immer so bei mir, es gibt eine Spaltung, und die spürt man innerhalb der Schrift. Ich glaube nicht, daß Erfahrung und Erkenntnis sich versöhnen können.

Brigitte Classen: Immerhin deutet der Satz doch auf eine neue Erfahrung hin: Zwar ist die Großmutter gestorben, doch alles geht weiter. Immer wieder kommt die Familienstruktur durch. Man hält zusammen, wie es für Leute, die hier leben, gar nicht so üblich ist.

Fabrizia Ramondino: Ich will ein ganz anderes Beispiel für die verschiedenen Traditionen geben. Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger Jahre gehörte ich einer lokalen politischen Organisaion der radikalen Linken an. Wir waren eine Gruppe von ungefähr 80 bis 100 Personen. Als Mitglieder der Organisation aus Norditalien kamen, verspotteten sie uns und sagten, wie seien eine Familienorganisation, nicht eine politische. Tatsächlich war es wie in einer Familie, das ist bei mir im Leben immer so gewesen...

Brigitte Classen: Hier wächst man meist in kleinen Familien auf, ohne Onkel und Tante. Nicht, daß man sie nicht gemocht hätte, man kannte sie nicht. Wichtiger wurde die andere Form der Verständigung. Familien, die sich rekonstruierten aus Leuten, die nicht verwandt waren, die gemeinsam dachten, familiäre Beziehungen entwickelten, sagten, ich bin für dich da, egal in welcher Situation.

Fabrizia Ramondino: Wir haben beides in Neapel. Es gibt einerseits die starken Blutsfamilien, ein wenig wie ein Tribu. Eine der wichtigsten Organisationen der Camorra in Neapel heißt „nuova familia“, die neue Familie. Es ist undenkbar, daß eine Verbrecherorganisation sich anderswo so nennt. Andererseits gab es diesen Versuch mit Leuten aus anderen Gegenden, auch anderen Ländern. Bei uns fing das schon in den Sechzigern an, die Erfahrung mit Unbekannten, also nicht Blutsverwandten. Eine solche Beziehung habe ich zu meiner Freundin Laura, sie hat mir zwei oder dreimal das Leben gerettet. Bei meinem Schreiben gibt es immer einen Bruch zwischen Erkenntnis, Vernunft und Erkenntnis ohne Vernunft. Beides ist da: die Erfahrung sich hinzugeben und die Trennung durch den Verstand, die Erkenntnis. Beides, ohne sich zu versöhnen. War ich klar?

Brigitte Classen: Sehr klar. Über die Fremdheit werden ganz enge Beziehungen entwickelt, die mit Enge nichts zu tun haben. Verpflichtungen, die über Fremdheit vermittelt sind. Nicht, das ist Tante Else, und wir gehören zusammen.

Fabrizia Ramondino: Viele in meiner Generation, auch ich, haben sich geweigert, das zu erkennen und gegen die Familie gekämpft. Die Welt meiner Familie habe ich verlassen, zwar schmerzlich, aber ich habe mich ganz getrennt und diese bürgerliche Welt von Neapel ganz verlassen. Später erst ist dieses Mitleid entstanden. Erst, und das war für mich sehr komisch, als mein Roman erschien und große Berichte in den wichtigen nationalen Zeitungen standen, hat mich die neapolitanische Bourgeoisie entdeckt. Ich bin fast wie ein Gegenstand von einem anderen Planeten in diese Welt gekommen. Diese Kreise sind mir noch nicht völlig fremd, eher ein Theater für mich.

Ulrike Haß: Fremdheit und Nähe, noch einmal. Nach den ganzen Trennungen, gibt es denn ein Wiederfinden mit der Bourgeoisie oder mit der Stadt?

Fabrizia Ramondino: Nicht.

Ulrike Haß: Sie bleibt fremd.

Fabrizia Ramondino: Die neapolitanische Bourgeoisie ist mir fremd, nicht fremd in diesem Sinne, ich kenne sie sehr gut. Ich liebe sie nicht, ich beurteile sie oder ich lache über sie.

Ulrike Haß: Und gibt es doch etwas wie Versöhnung? Ein Zukommen auf diesen Ort? Auf den Ort des Hauses?

Fabrizia Ramondino: Aber das Haus ist das Buch. Ich bin ohne Haus irgendwie. Ich fühle mich immer getrennt und fremd. Die schizophrene Komponente besteht, eine Art Fremdsein, nur im Schreiben bin ich da. Rimbaud sagte: Ich ist ein anderer. Und ich sage: Ich ist kein anderer, weil es kein Ich mehr gibt.

Brigitte Classen ist Historikerin und vormalige Herausgeberin der „Schwarzen Botin„; Ulrike Haß ist Autorin und Dramaturgin. Beide leben in Berlin. Das Gespräch mit Fabrizia Ramondino wurde auf Deutsch geführt.

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