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Die geheimen Verführer? - Sexualität im Kinderladen

■ Vorwiegend männliche Erzieher klagen in letzter Zeit über Probleme mit Eltern wegen der Sexualerziehung im Kinderladen / Wo sind die Ansprüche aus der Antiautoritären Bewegung geblieben?

Die geheimen Verführer? - Sexualität im Kinderladen

Vorwiegend männliche Erzieher klagen in letzter Zeit über

Probleme mit Eltern wegen der Sexualerziehung im Kinderladen / Wo sind die Ansprüche aus der Antiautoritären Bewegung

geblieben? Linke Ansprüche schließen sexuellen Mißbrauch von Kindern nicht aus / Ein Erzieher berichtet aus seiner Sicht Innerhalb eines Jahres nun schon das vierte Mal: Auf dem ErzieherInnen-Treff berichtet ein männlicher Erzieher von Schwierigkeiten mit den Eltern, hauptsächlich Müttern, die aufgrund angeblichen pädophilen Interesses des Erziehers bzw. der zu freizügigen sexuellen Aktivitäten der Kinder untereinander entstanden sind. Die Konsequenzen bestanden entweder in der sofortigen eigenen Kündigung der betroffenen Erzieher, denen es unmöglich war, auf der Grundlage eines solchen gestörten Vertrauensverhältnisses weiterzuarbeiten. Und/oder in einem Auszug eines Teils der Elterngruppe aus dem Kinderladen. Oft werde den Erziehern nicht nur von relativ neuen, sondern auch von alteingesessenen Eltern totales Mißtrauen entgegengebracht.

Mein eigener Umgang mit den Kindern geht an einigen Punkten über das hinaus, wie die betroffenen Erzieher mit ihren Kindern umgegangen sind. Und das macht mir Angst. Habe ich Glück gehabt und bin bislang nur durch besonders glückliche Umstände vor einschneidenden Schwierigkeiten mit den Eltern verschont geblieben? Schwebt nicht auch, nach diesen Erfahrungen meiner Kollegen, das Damoklesschwert der Kündigung oder gar eines Gerichtsverfahrens über mir?

Und nicht zuletzt: Bewirken solche Berichte von Kollegen nicht, daß immer weniger Erzieher sich überhaupt trauen, ihre eigenen Schwierigkeiten in bezug auf einen ungezwungenen Umgang mit der Sexualität anzugehen und den Kindern nicht den gleichen repressiven Charakter der Sexualität, der auch für unsere Eltern typisch war, zu vermitteln?

Solch eine Entwicklung wäre fatal. Die einzige Möglichkeit, das zu verhindern scheint mir, gerade auch den sexuellen Umgang der Kinder untereinander und insbesondere den Umgang der Erwachsenen mit den sexuellen Fragen, die sie und ihre Kinder betreffen, öffentlich zu thematisieren.

Was ist noch übriggeblieben von den Ansprüchen aus der Gründerzeit der Kinderläden, als das Ermöglichen und die Vermittlung einer repressionsfreien Sexualität wesentliches Ziel der Arbeit war?

Steine des Anstosses? Kinderladennotizen

23.3. 87

Christine hat sich bei ihrem Papa beschwert, daß Franz und Michael ständig ihre Möse sehen wollen und daß sie dazu keine Lust mehr hätte. Zwei Tage später im Zoo halte ich Marie-Susan zum Pinkeln ab. Franz kommt sofort angerannt, ruft: „Komm, Michael, schnell, eine Muschi!“ und dann „Schade, schon vorbei.“ Ich zu Franz: „Na ja, Marie-Susan hat eine Möse, und du und Michael, ihr habt nen Schwanz. Und ich auch. Die könnt ihr ja auch ankucken oder ankucken lassen.“

11.6. 87

Mit den Kleineren gespielt. Die Größeren fast alle in die Höhle zurückgezogen. Als nach einiger Zeit Marie-Susan aus der Höhle zu uns kommt, frage ich, was sie denn gespielt haben. Marie-Susan meint: „Nichts.“ Ich frage nach: „Ihr hockt doch dort nicht eine Stunde zusammen und spielt nichts?“ Schweigen. Ich spiele weiter. Nach einiger Zeit meint Marie-Susan: „Wir haben was gespielt. Aber das verrate ich nicht, weil es was Verbotenes ist.“ Ich: „Ach, was soll denn hier verboten sein?“

Auf Nachfrage von mir bestätigt Marie-Susan mir verschämt, daß sie sich ausgezogen haben und miteinander spielen. Als ich ihr wiederholt versichere, daß das doch nicht verboten ist, läuft Marie-Susan freudestrahlend zu den anderen und verkündet, daß ich gesagt habe, das sei nicht verboten, sich nackt auszuziehen und miteinander zu spielen. Ich besuche die Gruppe in der Höhle. Die Kids haben Karin mit einem großen Blatt Papier und Tesafilm die Möse zugeklebt. Ich bestätige nochmal, daß sie das natürlich spielen dürfen, daß sie sich aber keine Gegenstände in die Möse schieben sollen, weil das zu gefährlich ist und daß sie auch sonst aufpassen sollen, daß sie sich nicht verletzen. Anschließend 'fachsimpeln‘ wir, wie das Zukleben der Möse technisch noch besser hätte bewerkstelligt werden können.

28.8. 87

... Die Kinder wollen mich ärgern, indem sie versuchen, mir die Hose runterzuziehen. Mir ist das peinlich, weil die Leute von draußen durchs große Ladenfenster reinschauen können. So erzähl ichs danach auf einem Elternabend. Später wird mir klar, daß ich eigentlich noch mehr Angst davor hatte, daß Eltern reinkommen könnten, während ich ohne Hosen dastehe und mir das unheimlich peinlich wäre. Und ich mich rechtfertigen müßte, was hier passiert.

1.10. 87

Beim Turnen. Franz, Claude und Marie-Susan folgen mir auf die Toilette, wollen mir beim Pinkeln zusehen und danach meinen Schwanz anfassen. Was sie auch dürfen. In der Umkleidekabine wollen sie dann, daß ich mich ausziehe. Ich hab ihnen gesagt, daß ich ne ganze Menge Ärger bekommen kann, wenn ich mich hier vor den Leuten auszöge, daß wir das auch im Kinderladen machen könnten. Alle lachend: „Au ja.“ Ich erzählte ihnen dann, verunsichert, halb fragend: Daß sie mich doch schon öfter nackt gesehen hätten, beispielsweise auf der Kinderladenreise, wenn wir duschen, oder früher in der Jugenfernheide beim Baden. Die Kinder reagieren nicht. Franz meint kurz darauf, daß ich Bescheid geben sollte, wenn ich pinkeln gehe. Hab gesagt, daß ich das machen könnte. Im Laden hab ichs dann vergessen, die Kids haben mich nie mehr darauf angesprochen.

Ich wollte das den Eltern erzählen, um mich abzusichern, daß nicht über wilde Geschichten Mißtrauen entsteht und weil ich klären wollte, ob die Eltern mein Verhalten okay finden.

Wir haben auch zusammen darüber geredet, unter dem Tagesordnungspunkt „Kindergeschichten“, hinter dem ich das Thema Sexualität verborgen hatte. Wär mir komisch gewesen, schon im voraus auf einen angekündigten Tagesordnungspunkt „Sexualität“ hin angesprochen zu werden.

Wir haben sehr intensiv geredet, zum Teil deutliche Unterschiede zum Punkt Sexualität allgemein konstatiert, haben aber gut miteinander reden können (war wahrscheinlich gut, daß wir weniger waren und in der Kneipe saßen). Herausgekommen ist dann letztendlich folgendes:

1.) Der Umgang der Kinder untereinander - wir greifen einschränkend nur dann ein, wenn Gewalt im Spiel ist, also jemand zu sexuellen Spielen gezwungen wird; wenn die Kids Gegenstände in die Möse schieben, wobei wir dann eben erklären, daß die Verletzungsgefahr sehr groß ist bzw. Murmeln und andere Dinge unter Umständen nur schwer wieder rauszubekommen sind.

2.) Der Umgang zwischen Kids und ErzieherInnen - wir lassen uns auf soviel Annäherung und Neugierde der Kinder ein, wie wir das jeweils können. Und erklären bei Grenzen, die wir ziehen, warum wir das nicht wollen. Wenn die Kinder Lust zum Ankucken haben und zum Anfassen, dann sollen wir ihnen, wenn sie das tun, erklären, daß die gleiche Geschichte bei Fremden, aber auch bei Bekannten, problematisch ist.

Fragen, Thesen, Widersprüche

1.) Weil Sexualität mehr ist als Faktenwissen, muß der Umgang mit den Bedürfnissen gelernt werden, dazu sind die Erwachsenen Vorbilder und dazu muß auch Raum zum Ausprobieren gegeben werden.

2.) Sexueller Mißbrauch wird von „ganz normalen“ Menschen aus allen Schichten und Berufsgruppen verübt. Ein linker Anspruch und die Tätigkeit in einem Kinderladen schließt sexuellen Mißbrauch von Kindern nicht aus.

3.) In kaum einem anderen Bereich der Erziehung verhalten wir Erwachsene uns so heikel und gezwungen wie bei sexuellen Fragen, obwohl andere Bereiche (z.B. das Verhalten im Straßenverkehr) mindestens genauso überlebensnotwendig für die Kinder sind. In kaum einer anderen Hinsicht wird die Übereinstimmung der Erziehungsziele der Kita mit der elterlichen Praxis zuHause so stark gefordert. “

4.) Die Konfrontation mit einem anderen Umgang der Kinder mit der Sexualität stellt eigene Persönlichkeitsstrukturen offensichtlich viel stärker in Frage, als die Erwachsenen verkraften können. Die Sinnlosigkeit der meisten Moralgebote ist hier am deutlichsten und am wenigsten verdrängbar. Die sexuellen Normen dürfen von daher am wenigsten in Frage gestellt werden.

5.) Für uns Erzieher ist daher, aufgrund der eigenen Schwierigkeiten und der Ängste der Eltern, die Sexualerziehung mit am schwierigsten. Das drückt sich aus in unseren Versuchen, den Kindern einen möglichst ungezwungenen Umgang mit der Sexualität zu ermöglichen.

-Ich bin dann ganz betont ungezwungen, wenn die Kinder ihre Doktorspiele machen.

-Ich lasse die Kinder bewußt allein in ihren Höhlen und Kuschelecken, wenn ich sexuelle Aktivitäten vermute. Ich habe oft Hemmungen, dann zu den Kindern zu gehen. Bei keinem anderen Spiel käme ich auf die Idee, außer wenn die Kinder ausdrücklich darauf bestehen.

6.) Die Angst vor Sanktionen durch die Eltern, die ja immerhin unsere Arbeitgeber sind, belastet zusätzlich und macht das Angehen eigener Blockierungen und Hemmungen noch schwerer! Für uns Männer ist es dabei besonders schwer, uns auch emotional stärker auf Kuschelsituationen einzulassen: Ein steifer Schwanz beim Mann ist offensichtlicher als aufgerichtete Brustwarzen bei einer Frau.

7.) “... zeigen doch die Erfahrungsberichte aus Frauengruppen und Frauenhäusern, daß sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder Alltag ist;

-daß sexueller Mißbrauch von Kindern in den meisten Fällen Mädchen betrifft;

-daß sexueller Mißbrauch an Kindern vor allem von Männern verübt wird;

-daß sexueller Mißbrauch an Kindern in der überwiegenden Zahl aller bekannt gewordenen Fälle in der Familie oder im nahen Bekanntenkreis der Kinder stattfindet.“

8.) Dieser Hintergrund ist eine Ursache dafür, warum die Konflikte in den Kinderläden immer ursprünglich und hauptsächlich zwischen Müttern und männlichen Erziehern ausbrechen. Die gleichen Situationen, die bei männlichen Erziehern inkriminiert wurden, bleiben unproblematisch, wenn nur Erzieherinnen beteiligt sind. Ist es also wirklich die Situation, die beanstandet wird, oder brechen hier aus der Situation der Frauen in unserer Gesellschaft begründete Ängste auf?

Ist es Ausdruck von einem ungerechtfertigtem Frauenbild, das Frauen als Täterin von vorneherein ausschließt, daß Frauen wegen identischer Situationen nicht belangt werden? Oder sind es die Ängste, die auch in Situationen durchschlagen, in denen die ganz konkret vorliegenden Tatsachen und diese Ängste in einem krassen Mißverhältnis stehen?

9.) Die unverarbeiteten Ängste, Wünsche, Phantasien der Erwachsenen wären der eigentliche Ansatzpunkt für eine Sexualpädagogik, die den Kindern eine ungezwungene Erfahrung und Erarbeitung des sexuellen Lebens ermöglichen könnte.

10.) So lange eine gesellschaftliche Situation herrscht, in der eine sexuelle Befreiung im weitesten Sinne nicht möglich erscheint, ist eine Pädagogik zu entwickeln, die die eigenen Verstümmelungen berücksichtigt:

Einmal, indem mensch versucht sie zu überwinden.

Zum anderen, indem jede/r ErzieherIn abklärt, wo ihre eigenen Grenzen liegen und dem Kind versucht zu vermitteln, weshalb diese Grenzen bestehen.

11.) Aus Angst vor sexuellem Mißbrauch bereits Anfassen von Geschlechtsteilen vorbehaltlos und unter allen Umständen zu unterbinden, bedeutet für mich, die Kinder mit den gleichen Knebeln zu erziehen, die den meisten von uns angelegt wurden.

12.) Ausdruck eines verantwortungsvollen Umgang mit Kindern ist nicht - weder im sexuellen Bereich noch in irgendeinem anderen - das absolute Verbot, sondern der Versuch, die Kinder auf bestimmte Gefahren hinzuweisen und ihnen durch einen möglichst offenen Zugang zu allen Bereichen des Lebens zu ermöglichen, mit Gefahren umzugehen. Inwiefern der in den Kinderladennotizen skizzierte Versuch, mit dem Problem Sexualität umzugehen, der Weisheit letzter Schluß ist, bleibt zu diskutieren.Raimund Bergmann

P.S.: Treff der Kila-ErzieherInnen: Jeden ersten Dienstag im Monat. Ort: wechselnd, jeweils zu erfahren unter Tel.: 784 52 68 Do von 16.30-19.00 Uhr. Wir bitten insbesondere ErzieherInnen, die massive Schwierigkeiten mit ihren ArbeitgeberInnen in puncto Sexualerziehung hatten, sich umgehend zu melden.

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