Der Dünnsäure-Gift-Handel blüht

■ Kronos-Titan will Verklappungskontingent von 1989 vorziehen / Toxikologe Wassermann attackiert Umweltminister Töpfer / NRW-Grüne geißeln Abwasserpolitik: Nicht die Störfälle sind das Problem

Der Dünnsäure-Gift-Handel blüht

Kronos-Titan will Verklappungskontingent von 1989

„vorziehen“ / Toxikologe Wassermann attackiert

Umweltminister Töpfer / NRW-Grüne geißeln Abwasserpolitik: „Nicht die Störfälle sind das Problem“

Von unseren Korrespondenten

Berlin/Kiel/Düsseldorf (taz) - Der Streit um die sogenannte Dünnsäure-Verklappung in der Nordsee geht weiter. Auf einer erneuten Sitzung des Umweltbundesamts wurde gestern weiter nach einer „Bleibe“ für die zusätzlich anfallenden mindestens 40.000 Tonnen Dünnsäure von Kronos-Titan gesucht. Durch die technischen Probleme mit der Aufbereitungsanlage in Nordenham sei der Stufenplan zum Ausstieg aus der Verklappung gefährdet, verlautete aus dem UBA. An dem Ziel, die Verklappung bis 1990 endgültig zu stoppen, werde man aber festhalten. Als „Lösung“ aus dem Dilemma wird jetzt offenbar eine Art Giftmengenaustausch erwogen. Die für 1989 zur „Verklappung“ vorgesehene Giftmenge von 195.000 Tonnen soll demnach um jene Menge reduziert werden, die Kronos -Titan in diesem Jahr zusätzlich ins Meer kippen will. Dieses Jahr sind 230.000 Tonnen genehmigt worden, für 1989 sind 195.000 Tonnen vorgesehen.

Eine Entscheidung im Säure-Schacher ist aber noch offen. Offiziell hat Kronos-Titan, wie die Firma gestern erklärte, noch keinen Antrag auf zusätzliche Verklappungsmengen gestellt. Man habe lediglich einen „Vorschlag“ zur Vorziehung eines Teils des 89er-Kontingentes auf 1988 gemacht. Der Hamburger Senat hat gestern ein sofortiges Verbot der Dünnsäure-Verklappung gefordert und weitreichende Einschränkungen für die Einleitung von Schadstoffen in Nord und Ostsee. Eine entsprechende Initiative wird für den Bundesrat vorbereitet.

Der Umweltschützer und Toxikologe an der Universität Kiel, Prof. Otmar Wassermann, hat am Dienstag in Kiel die Untätigkeit von Bundesumweltminister Klaus Töpfer angegriffen. Auf einer Pressekonferenz des BUND sagte Wassermann zum Seehundsterben: „Töpfer versteht es, nutzlos Schaum zu schlagen.“ Der Besuch des Politikers auf den Seehundbänken habe die bereits geschwächten Tiere nur zusätzlich gestört und müsse als „Volksverdummung“ gewertet werden. Nach Darstellung Wassermanns und des Meeresexperten des BUND, Florian Liedl, sind Algenblüte und Seehundsterben Teil desselben „langsamen Sterbens“ der Nordsee. Etwa 60 Prozent der Fische im Mündungsbereich der Flüsse in der Nordsee litten unter Hautkrankheiten, etwa 30 Prozent des Nachwuchses von Plattfischen kämen verkrüppelt zur Welt. Das „lineare Denken“ von Politikern reiche „nur noch aus, um Bestechungsgelder nachzuzählen“, aber nicht, um ökologische Zusammenhänge zu begreifen, meinte Wassermann. Das Gerede von Killeralgen solle lediglich suggerieren, daß Umweltkatastrophen mit Polizeidenken in den Griff zu bekommen seien. Nötig seien eine „Vermenschlichung der Chemie-Politik“ und ein sofortiges Verbot aller Abfallverklappungen und -verbrennungen auf See. Als ersten Schritt zum „Frieden mit der Natur“ müsse der Verteidigungshaushalt halbiert werden.

In Düsseldorf warfen unterdessen die nordrheinwestfälischen Grünen der sozialdemokratischen Landesregierung „Mitverantwortung“ bei der Verschmutzung der Nordsee vor. Harry Kunz, Landesvorstandsmitglied der Grünen, hielt der Rau-Regierung am Dienstag vor, „keinerlei Maßnahmen“ getroffen zu haben, um „auch nur den Anstieg der Phosphatbelastung der Flüsse durch den Einbau dritter Reinigungsstufen in den Kläranlagen von Kommunen und Industrie zu stoppen“. Ein Sprecher des Düsseldorfer Umweltministeriums bezeichnete diese Angaben als „Unsinn“. Von den 510 Anlagen in NRW verfügten inzwischen 199 über die dritte Reinigungsstufe. Die Phosphatfracht des Rheins hat sich nach Angaben der Grünen seit 1950 verdreifacht. Allein das Werk Leverkusen der Bayer AG dürfe laut Erlaubnisbescheid des Kölner Regierungspräsidenten täglich 2.000 Tonnen Chemieabfälle in den Rhein leiten. Dieser legale Normalbetrieb sei das „eigentliche Problem, nicht die Störfälle“. Kunz warf der Landesregierung vor, nicht einmal die Möglichkeiten des Wasserhaushaltsgesetzes auszuschöpfen. So verfüge nur „ein winziger Bruchteil“ der schadstoffträchtigen Betriebe in NRW über die seit dem 1.1. 1987 vorgeschriebenen Einleitungsgenehmigungen. Zur Zeit werden laut Kunz noch 30.000 Tonnen Dünnsäure pro Jahr aus NRW in der Nordsee verklappt. Die Verklappung solle 1989 zwar auslaufen, aber die Verspülung von Dünnsäurerückständen in den Rhein werde „nach dem Willen der Landesregierung weiter fortgesetzt“. Der Sprecher des Umweltministeriums sprach gegenüber der taz von der Verspülung von „vorbehandeltem Abwasser aus der Dünnsäureproduktion“. Dies mit der Dünnsäure-Verklappung in Verbindung zu bringen, sei nichts weiter als „Polemik“. Manfred Kriener / Jörg Feldner/Walter Jacobs