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"Ich ahnte nicht nur, ich wußte!"

■ Der Schriftsteller und Ex-DDR-Kulturminister Johannes R. Becher zur Stalin-Ära / Ein 1956 verfaßtes Manuskript wurde jetzt in der DDR-Zeitschrift 'Sinn und Form– erstmals publiziert / Es gelte, die Sprac

„Ich ahnte nicht nur, ich wußte!“

Der Schriftsteller und Ex-DDR-Kulturminister Johannes R.

Becher zur Stalin-Ära / Ein 1956 verfaßtes Manuskript wurde jetzt in der DDR-Zeitschrift 'Sinn und Form‘ erstmals

publiziert / Es gelte, die Sprache zu finden, das

Ungeheuerliche beredt zu machen

Berlin (dpa) - Der frühere Kulturminister und DDR -Schriftsteller Johannes R. Becher hat zwei Jahre vor seinem Tod in einem bisher nicht publizierten Manuskript mit den Verbrechen der Stalin-Ära abgerechnet und sich vorgeworfen, durch Schweigen mitschuldig geworden zu sein. Bechers aufsehenerregende Äußerungen wurden jetzt erstmals in der von der Akademie der Künste der DDR herausgegebenen Zeitschrift 'Sinn und Form‘ in ihrer jüngsten Ausgabe publiziert.

Der 1958 gestorbene Becher war Gründungsmitglied der DDR -Akademie und hatte das Manuskript im Juni 1956 dem Aufbau -Verlag der DDR übergeben. „Bevor der Band dann 1957 im Druck vorlag, strich Becher aus den Fahnenkorrekturen sieben Absätze, die im Prozeß des Nachdenkens über die Ergebnisse des 20. Parteitages der KPdSU entstanden waren“, schreibt die Zeitschrift jetzt in einer Anmerkung zu der Veröffentlichung. Auf dem 20. Parteitag der sowjetischen KP hatte Nikita Chruschtschow die Fehler der Stalin-Ära und den Personenkult erstmals öffentlich angeprangert.

Becher bezieht sich in seinem mit „Selbstzensur“ überschriebenen Manuskript auf „gewisse Ereignisse in letzter Zeit“, die ihm ein Thema wiedergegeben hätten, auf das zu verzichten „mir auch als Lebenslüge hätte vorgeworfen werden können“. Es gelte, die Sprache zu finden, „um all das Ungeheuerliche beredt zu machen und wiedergutzumachen, was ich durch Schweigen mitverschuldet habe“. Er habe sich auch „zu wenig ernsthaft bemüht, dieses Schweigen zu durchbrechen“, schreibt Becher und fügte hinzu: „Aber ohne mich selber anzuklagen, will ich nun nicht in die Reihe derer treten, die ebenfalls zur gegebenen Zeit nichts gewagt haben, aber sich jetzt so gebärden, als ob sie schon immer 'dagegen‘ gewesen seien.“

In der Stalin-Ära habe „das Entsetzen gewissermaßen eine neutrale, abstrakte Gestalt“ angenommen. „Darüber spricht man nicht“ habe eine „unausgesprochene gesellschaftliche Regel“ gelautet, „unsere gesellschaftliche Heuchelei“, meinte Becher. „Zunächst sprach man wohl noch darüber im eng vertrauten Kreise, dann nur noch mit dem oder jenem Menschen, der einem besonders nahestand, dann nur noch mit sich selbst, um späterhin auch diesen Monolog abzubrechen als unbehaglich, unheimlich.“ Er habe Stalin damals verehrt, „wie keinen unter den Lebenden“, und ihn „für einen der Genien der Menschheit“ gehalten, schrieb Becher. „Aber ebenfalls möchte ich nicht verschweigen, daß in demselben Maße, wie ich Stalin verehrte und liebte, ich von Grauen ergriffen worden bin, angesichts gewisser Vorgänge, die ich in der Sowjetunion erleben mußte. Ich kann mich nicht darauf hinausreden, daß ich davon nichts gewußt hätte. Ich kann auch nicht behaupten, daß ich davon nichts wissen wollte. Ich ahnte nicht nur, oh, ich wußte!“ Er habe das eine mit dem anderen nicht in Übereinstimmung bringen können und meinte, die Zeiten würden heranreifen, um diese Fragen zu lösen. „Und die Zeiten sind herangereift, nicht durch meinen Verdienst. Nicht einen Finger habe ich gerührt, um das Heranreifen dieser Zeiten zu beschleunigen...Ich habe niemanden diesem Entsetzlichen überliefert, ausgeliefert, das konnte ich nicht. In dieser Frage war ich uneins mit mir selber, war mein Wesen gespalten.

Als „Grundirrtum meines Lebens“ bezeichnete Becher die Annahme, „daß der Sozialismus die menschlichen Tragödien beende und das Ende der menschlichen Tragik selber bedeute“. Es sei aber so, „als habe mit dem Sozialismus die menschliche Tragödie in einer neuen Form ihren Anfang genommen, in einer neuen, ganz und gar ungeahnten und von uns noch nicht übersehbaren“. Der Sozialismus habe „erst die menschliche Tragik in Freiheit gesetzt“.

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