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Warschaus Schlangenwächter

■ Vor der bundesdeutschen Botschaft dauert das Schlangestehen zur Zeit drei Wochen

Warschaus Schlangenwächter

Vor der bundesdeutschen Botschaft dauert das Schlangestehen zur Zeit drei Wochen

Warschau (taz) - In den düstersten Zeiten der Wirtschaftskrise, als es in den Läden oft nur Essig gab und die Leute schon nachts mit dem Schlangestehen anfingen, entstanden die sogenannten „selbstverwalteten Schlangen“. Man kam früh morgens, trug sich in eine Liste ein und kam wieder, wenn man an der Reihe war.

So eine Schlange gibt es jetzt wieder - vor der Botschaft der Bundesrepublik in Warschau. Hier beträgt die durchschnittliche Wartezeit inzwischen bereits drei Wochen, und das, obwohl die Botschaft nach eigenen Angaben täglich mehrere tausend Visa ausstellt. Wie zu den Zeiten des Kriegsrechts tragen sich die Bewerber in Listen ein. „Schlangenwächter“ achten streng auf die Einhaltung der Reihenfolge. Jeder, der in den abgesperrten Vorhof der Botschaft will, muß seine Stehzeit nachweisen. Wer keine Zeit oder Lust hat, seine Tage „abzustehen“, kann einen „Steher“ mieten. Diese Steher, meist Rentner mit großem Stehvermögen, reihen sich dann für den eigentlichen Bewerber in die Schlange ein - natürlich für entsprechend saftiges Entgelt.

Der Ansturm auf die deutsche Botschaft hat derartige alptraumähnliche Ausmaße angenommen, weil in der Bundesrepublik sehr viele polnische Auswanderer leben, sie relativ liberale Einreisevorschriften anwendet und die Konsularteilung zuwenig Personal und Raum hat. Besserung, so ein Angestellter, ist nicht in Sicht. Einstweilen behilft man sich damit, den Strom der Antragsteller in geordnete Bahnen zu lenken. Das ist alles andere als leicht. Regelmäßig verlieren Antragsteller nach stundenlangem Stehen in der Hitze die Nerven, schlagen um sich, brüllen oder beschimpfen die Angestellten als Nazis, Faschisten oder Revanchisten. „Das sind zumeist Angehörige der oberen Schichten“, erklärt ein Botschaftsangestellter, „die sind das Schlangestehen nicht gewohnt.“ Die Strafen für solches Verhalten sind hart und unbarmherzig und reichen von Zurückschicken des Übeltäters ans Ende der Schlange bis zur Ablehnung des Antrags.

Die Angestellten nehmen Visaanträge bereits mit nach Hause. „In diesem Chaos hat man ja keine Ruhe“, stöhnt ein Angestellter. Die Gänge des Konsulats sind verstopft, jedes Mal beim Verlassen des Gebäudes müssen sich die Angestellten durch die in die Hunderte gehende Menge boxen und dabei aufpassen, daß sich nicht jemand außer der Reihe mit ihnen hineindrängt. Manche trauen sich schon fast nicht mehr auf die Straße: „Sofort kommt jemand, der ein Visum von mir will“, stöhnt ein Konsul.

Andere Botschaften sind dem Ansturm auf drastischere Weise Herr geworden: Die Schweizer verlangen inzwischen bei der Antragstellung die Vorlage von drei Visa aus Nachbarländern, in die dann abgeschoben werden kann, wer z.B. einen Asylantrag stellt. Die Österreicher dagegen haben das Problem an die Grenze verlagert: Nach Aufhebung der Visapflicht lastet die Kontrolle auf den Schultern der Grenzpolizei. Wer beispielsweise weder Divisen für den geplanten Aufenthalt oder keine Einladung aus Österreich vorweisen kann, wird aus dem Zug geholt und zurückgeschickt. Statt der Botschaft ist nun die Grenzpolizei übelastet. Auf andere Weise versuchen auch die Grenzbehörden der sozialistischen Bruderländer Herr zu werden: An der rumänischen und ungarischen Grenze wurden plötzlich unwillkürliche Zölle auf mitgeführte Waren erhoben. Griechenland forderte von polnischen Reisenden ohne Vorankündigung die Vorlage mehrerer hundert Dollar bei Einreise, die CSSR läßt Individualverkehr nur noch auf der Basis von Einladungen der nächsten Familienangehörigen zu.Klaus Bachmann

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