: Kleiner französischer Wahlalmanach
Der Sieg Mitterrands beruhte auf der größeren Geschlossenheit seines Wählerreservoirs und auf der personen - und sachthemenbezogenen Präferenz von unentschiedenen und Wechselwählern des bürgerliche Lagers für ihn; Mitterrand hatte sich weniger ideologisch profiliert als Chirac und galt in fast allen zentralen „Issues“ seinem Gegenkandidaten überlegen. Ein Sieg über Raymond Barre als Einheitskandidat der Rechten wäre erheblich schwerer geworden.
Die prägende Kraft der alten sozialmoralischen Milieus und Konfliktlinien bleibt auch in Frankreich bestehen: Praktizierende Katholiken, alter Mittelstand und Freiberufler wählen zu 60 bis 70 v. H. rechts, gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer, vor allem des öffentlichen Sektors, sowie Lehrer, Sozialberufler, Hilfspersonal und Arbeitslose in etwas derselben Proportion links.
Französische Frauen wählen moderat (nur zehn v. H. für die extreme Rechte, vier v. H. für die linksradikalen Splitterparteien) und mehrheitlich links, während 17 v. H. Männer für Le Pen und 51 v. H. für die Rechtsparteien insgesamt stimmten. Je jünger und gebildeter die Wählerinnen sind, desto mehr öffnet sich dieser auch in anderen westlichen Demokratien zu beobachtende „gender gap“.
Jungwähler zwischen 18 und 24 Jahren votieren in Frankreich mehrheitlich rechts (51 v. H., darunter 15 v. H. für Le Pen, aber nur 5 v. H. für den grünen Kandidaten Wächter); aber anders die 25- bis 34jährigen, von denen 60 v. H. rot-grün wählten. Die „ökologische Konfliktlinie“ ist in Frankreich sehr wohl ausgeprägt; grüne Wähler sind überwiegend weiblich, in mittlerem Alter und vor allem in sozialen und pädagogischen Berufen tätig.
Die extreme Rechte verfügt in Frankreich über ein eigenständiges, landesweites und „interklassistisches“ Elektorat; ideologisch rechtsaußen zu verorten, steht es sozial, als „radikale Mitte“ eher zwischen rechts und links. Mehr als ein Drittel der Le Pen-Wähler verortet sich links oder „weder rechts noch links“, und jeder fünfte wählt im zweiten Wahlgang eine der Linksparteien. Die Anhänger des Front National sind überwiegend männlich, leben in städtischen Ballungsgebieten und kommen neuerdings zunehmend aus proletarischem und „populärem“ Milieu - anders als die traditionelle extreme Rechte in Frankreich.
Die gemäßigte Rechte bleibt in den meisten französischen Großstädten dominant - eine wichtige Ausgangsposition für die nächsten Wahlen 1989 auf kommunaler Ebene.
Die Zahl der Wechselwähler ist, wie auch die Schwankungen der Resultate seit Beginn der 80er Jahre belegen, ständig gestiegen; Wählerwanderungen zwischen 1981 und 1988 zeugen von einem Wahlverhalten, das „Warnungen“ (in sog. „Nebenwahlen“) und „Bestrafungen“ (in Hauptwahlen) an das eigene Lager austeilt. Wechsel erfolgen überwiegend in naheliegende Parteiformationen; die Zunahme rechtsextremer Stimmen könnte einer Kette nachlassender Identifikation mit Linksparteien zuzuschreiben sein. Fast zur stärksten „Partei“ wurden bei den Parlamentswahlen (mit 34,25 v. H. im ersten Wahlgang, 30,05 v. H. im zweiten) die Nicht-Wähler. „Abstentionnisme“ gilt weithin als Ausdruck mangelnden Bürgersinns, fehlenden politischen Interesses und unzureichender politischer Bildung; Wahlenthaltung kann aber auch als politisch-rationaler Ausdruck des Unbehagens an einem politischen System gedeutet werden. In Frankreich geht Wahlenthaltung einher mit überdurchschnittlich hoher Ablehnung bzw. Skepsis gegenüber dem politischen Establishment - ein Affekt, der auch dem Aufstieg des „Volkstribuns“ Le Pen zugutegekommen ist.
Claus Leggewie
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