: Vietnams Truppenabzug öffnet das Tor zu Verhandlungen
Zum Ende dieses Monats will Vietnam damit beginnen, die Hälfte seiner Truppen - rund 100.000 Mann - aus Kambodscha abzuziehen. In einer zweiten Phase, so hat das Außenministerium in Hanoi angekündigt, sollen bis 1990 auch die restlichen Soldaten das Land verlassen. Bis dahin werden sie bis auf 30 Km vor der thailändischen Grenze zurückgezogen. Bislang hatten westliche Beobachter die insgesamt sechs vietnamesischen Truppenrückzüge seit 1982 im allgemeinen als „Auswechseln“ gegen neue Soldaten abgetan. Erstmals wurde der Abzug von 20.000 im vergangenen Herbst als genuine Verringerung anerkannt.
Es besteht kaum ein Zweifel: Die Ankündigung der Vietnamesen, die 10jährige Besetzung des Nachbarlandes zu beenden - kurz nachdem die sojwetischen Truppen begonnen hatten, sich aus Afghanistan urückzuziehen und gerade rechtzeitig zum Moskauer Gipfel zwischen Reagan und Gorbatschow -, ist ein Ergebnis sowjetischen Drucks auf den Verbündeten. Eine Reihe von gutinformierten Beobachtern hatte längst vorausgesagt, das Afghanistan-Abkommen werde zur Blaupause für einen Indochina-Vertrag werden. Viele Einzelheiten des Genfer Vertrages finden sich jetzt tatsächlich wieder. Die wichtigste ist der einseitige Abzug, während weiter nach einer politischen Lösung gesucht wird, und die Anerkennung, daß eine neutrale Regierung - unter dem früheren Monarchen Prinz Sihanouk - der erste Schritt sein kann. Zuviel Ähnlichkeit mit Afghanistan, als der Zufall erlaubt.
Ernährungslage
katastrophal
Doch offenbar geht es den Vietnamesen nicht nur darum, den Indochina-Krieg zu beenden. Allen offiziellen Dementis zum Trotz hat die Besetzung Kambodschas die vietnamesische Wirtschaft bei weitem überbeansprucht. Die riesigen Ernteausfälle der letzten sechs Monate haben die Krise noch vertieft und es unmöglich gemacht, das Volk noch zu ernähren. Die Inflation galoppiert mit einer Geschwindigkeit von 700 Prozent pro Jahr, das durchschnittliche Lebensniveau sinkt rapide. Zudem ist Vietnam längst so stark von sowjetischer Wirtschaftshilfe abhängig, daß Moskau immer wieder gewarnt hat, das könne nicht immer so weitergehen. So sucht nun Vietnam verzweifelt nach anderen Hilfsquellen. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt den unmittelbaren Hilfebedarf des Landes auf 65.000 t - und gibt gleichzeitig zu, es habe bisher erst Zusagen seiner Mitgliedsländer über weniger als 5.000 t. Derweil ordert die Sowjetunion für Vietnam weiter Lebensmittel auf dem internationalen Markt.
Im Mai ging Vietnams Botschafter in Bangkok schon mit dem Klingelbeutel von Tür zu Tür bei den anderen Botschaften, nachdem der erste internationale Hilfsappell seines Landes überall auf taube Ohren gestoßen war. Daß Vietnam plötzlich über seinen (stolzen) Schatten gesprungen ist, zeigt, wie ernst die Lebensmittelknappheit geworden ist.
Dennoch bleiben die meisten westlichen Länder, vor allem die USA, Japan und Großbritannien, bislang bei ihrer Position: Sie wollen die Hilfe für Vietnam so lange zurückhalten, bis die Regierung ihre Truppen aus Kambodscha abgezogen hat. Ein führender Beamter einer Hilfsorganisation in Kambodscha nennt das „einen unakzeptablen politischen Gebrauch von Nahrungshilfe“. So will jetzt Vietnam mit der neuen Ankündigung, seine Truppen zurückzuholen, offenbar auf westliche Regierungen einwirken, ihr Hilfsersuchen endlich positiv zu beantworten.
Blockfreie und ASEAN:
Hektische Diplomatie
Seit dem Abschluß des Afghanistan-Abkommens läßt sich eine Flut diplomatischer Aktivitäten beobachten: Vietnams Außenminister Nguyen Co Thach konferierte ende Mai mit hohen sowjetischen Beamten in Moskau - kurz bevor der Abzug angekündigt wurde. Anschließend fuhr er auf das Außenministertreffen der Blockfreien in Havanna: Die Bewegung solle dabei helfen, den Kambodscha-Konflikt aus der diplomatischen Sackgasse zu holen. Das erste Resultat: Anfang Juni verkündete Pnom Penh, man sei bereit, sich mit Prinz Sihanouk und den zwei anderen Mitgliedern seiner Koalition zu treffen, die Blockfreien sollten den Gastgeber spielen. Ort und Zeitpunkt wären noch festzulegen, vorgeschlagen wurden Neu Delhi, Havanna oder Harare.
Schon lange bevor das Abkommen in Genf unterzeichnet wurde, hatten sowjetische Diplomaten signalisiert, Afghanistan könne als Vorbild für Kambodscha dienen. Der sowjetische Außenminister Schewardnadse und sein Stellvertreter Rogatschow erklärten beide ausdrücklich, Afghanistan könne „helfen, andere regionale Konflikte zu lösen“. Und osteuropäische Regierungsquellen berichten, daß Gorbatschow höchstpersönlich darauf drängt, daß „Annäherungsgespräche“ nach Genfer Muster von den Vereinten Nationen auch für Indochina auf die Beine gestellt werden. Thailand, das an Kambodscha grenzt und einer Viertelmillion von Khmer -Flüchtlingen als Gastland dient, könnte dabei eine Pilotrolle spielen.
Thailand übernimmt die
Rolle Pakistans
Thailand unterstützt unerschütterlich die „Widerstandskoalition“ als Kambodschas legitime Regierung. Doch Moskau argumentiert folgendermaßen: Wenn Pakistan an den sechsmonatigen Annäherungsgesprächen in Genf teilnehmen konnte, ohne das Regime in Afghanistan anerkannt zu haben, dann gebe es doch keinen Grund, warum Thailand nicht ein gleiches tun sollte. Und darüber hinaus: Wenn Pakistan sich erfolgreich weigere, seine Hilfe für die Mudjahedin aufzugeben, dann könne auch die „Koalition“ in Kambodscha weiter darauf bestehen, daß bei politischen Verhandlungen nicht ihre militärische Unterstützung reduziert wird.
So besuchte der thailändische Ministerpräsident Prem denn auch Gorbatschow in Moskau (im Mai) und debattierte mit ihm ausführlich über Kambodscha. Zwar bestand der sowjetische Parteichef darauf, niemand dürfe Hanoi ein Diktat aufzwingen. Aber man war sich doch einig, daß der anti -kommunistische ASEAN-Pakt eine konstruktive Rolle dabei spielen könnte, die gegnerischen Kambodschaner Sihanouk und Hun Sen wieder an einen Tisch zu bringen (nachdem sie sich schon zweimal in Paris getroffen haben).
Es scheint jetzt sicher, daß ein solches Treffen Ende Juli in Jakarta stattfinden wird. Anfang Juni bereits traf der indonesische Außenminister Ali Alatas seinen vietnamesischen Kollegen in New Vork, wo vermutlich die „Cocktail-Party“ endültig festgeklopft wurde - als der ersten ASEAN -Initiative, die seit zwei Jahren von Indonesien ausgeht.
Die Veranstaltung soll zunächst die Anführer der vier kambodschanischen Fraktionen zusammenbringen und dann die Vietnamesen einbeziehen, wobei die ASEAN-Staatschefs in der zweiten Phase den Gastgeber spielen. Lange schon hatte Sihanouk diese Formel bevorzugt, doch seine Partner hielten
-mit chinesischer Unterstützung - immer dagegen. Und bisher gibt es auch kein Anzeichen dafür, daß die Roten Khmer bereit wären, an der Juli-Veranstaltung in Jakarta teilzunehmen.
Gleichzeitig beginnen sich die Beziehungen zwischen Washington und Hanoi zu bessern: 52 Leichen wurden kürzlich in die USA überführt. Washington hat seinerseits private Hilfsorganisationen ermuntert, jetzt medizinische Hilfe für Vietnam zu leisten. Und einem Team von Regierungsärzten erlaubte sie, das Land zu besuchen, um den Bedarf an medizinischer Hilfe für die vietnamesischen Kinder - infolge von Krieg, Krankheiten und Unterernährung - festzustellen.
Larry Jagan
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