Märkischer Sand

■ Maria Knilli („Lieber Karl“) hat in Prag, Wien, Budapest, im West-Berliner Grunewald und in Paris einen Film über Emigranten gedreht: „Follow Me“ soll im Herbst auf dem Filmfest in Hof Premiere haben.

Zigaretten anzünden ist verboten: Seit Wochen hat es nicht geregnet. Der Kleinbus, der uns zum Drehort bringt, wirbelt den Sand auf, das Laub ist knochentrocken. Es ist heiß im Grunewald, man kriegt kaum Luft. Auf dem Weg Lastwagen, Wohnwagen, Bänke, es gibt Mittagessen. Ein edeles Büffet, vom Hotel importiert. Zwischen den Bäumen, mitten im Wald, hängen ein paar Girlanden. Darunter steht eine Tafel mit weißem Tischtuch und Ostereiern, ein Karren mit Speisen; Weingläser, Wassergläser. Ein Provisorium, ein Fest im märkischen Sand. Ein bißchen schmuddelig, altmodisch wie die Gäste und ihre Hosen mit Schlag. Marina Vlady sitzt an der Festtafel, sie zieht sich die Lippen nach, fächert sich Luft zu. Ein schöner, alter Fächer.

Die Schauspieler haben nichts zu tun, sie spielen Ohrfeigen geben. Die Hand fährt auf die Backe des anderen nieder, es knallt, aber es tut nicht weh. „Alte Klamotte, das kenn ich doch“, sagt einer, „Krakauer Schule“. Es wird französisch geredet, tschechisch, polnisch, ich weiß nicht was noch.

Katharina Thalbach schläft unter einem Baum, später liest sie die Bild-Zeitung, jede Seite von oben bis unten, dann löst sie das Kreuzworträtsel, die andern helfen ihr.

Dreharbeiten sind langweilig. Man wartet auf etwas, auf ein Geschehen, das ausbleibt. Die andern rackern sich ab. „Jetzt kommt eine Wolke von mindestens vier Minuten“, ruft einer durchs Megaphon. Also Pause. Für den 360-Grad-Schwenk müssen alle Spuren der Gegenwart getilgt werden: der Lastwagen wird zur Seite gefahren, der Wohnwagen getarnt wie beim Herbstmanöver, die Jogger werden umgeleitet, und wir Zuschauer müssen hinter einen Holzstoß. Das dauert.

Die Regisseurin ist Maria Knilli, 29 Jahre alt, klein, schmal, knabenhaft. Man übersieht sie fast. Mit Dominique, der den Gepäckmann spielt, bespricht sie die Ei-Szene. Auf dem Osterfest der Emigranten gibt er ein Kunststückchen zum besten. In seiner Faust drückt er ein Ei mit aller Kraft, aber es geht nicht kaputt. Maria Knilli ist nicht zufrieden. Dominique soll sich auf die Hand mit dem Ei konzentrieren; man darf die Anstrengung nicht im Gesicht sehen, sie steckt in den Fingern, den Knöcheln. Er soll ein Stativ kriegen, worauf er den Arm abstützen kann, damit seine ganze Kraft in die Finger geht.

Die Gäste stieren auf das Ei, dann applaudieren sie, feiern das Ereignis. Aber wenn sie sich nur einer nach dem anderen zuprosten und die Kamera in die Runde schwenkt, gibt es eine Wiederholung. Die Bewegung läuft sich tot. Also sollen sich die Schauspieler in Bewegung setzen. Aber wenn sie nach hinten, Richtung Festtafel, abgehen, entsteht ein Loch im Bild, die Kamera blickt plötzlich ins Leere. Vielleicht könnten die Kinder dahinten spielen. Nein, das geht auch nicht, auch das wäre eine Wiederholung, reines Füllsel. Es geht ihr um eine Bewegung in der Bildfolge, um Spannung, soviel verstehe ich. Und daß die Arbeit ihr Spaß macht, dieses Tüfteln, das Handwerkliche: Als Dominiques Finger vor Anstrengung endlich rot werden, freut sie sich. Bei ihren berühmten Kollegen habe ich das anders gesehen: da war es eine Qual.

Neben Marina Vlady steht einer, den ich schon einmal irgendwo gesehen habe. Pavel Landovsky, der Bauer mit dem Schwein in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Er sieht wirklich aus wie ein Bauer. Auf dem Nachhauseweg lese ich über ihn. Geboren in Ostböhmen, mit 12 Jahren wird er zum erstenmal denunziert. Sein Mitschüler verpetzt ihn: Im Keller der Volksschule hat er den Direktor nachgeahmt und geschworen, ihn so zu ärgern, daß er daran stirbt. Er muß die Schule wechseln.

Er darf nicht studieren, weil sein Vater eine Zeitlang in Russland war und wieder in die Tschechoslowakei zurückgekehrt ist. Er ist der Sohn eines Emigranten und Sowjet-Feindes. Später spielt er im Theater und im Film, schreibt Stücke. '68 bekommt er die ersten Schwierigkeiten, '72 Medienverbot, 1976 darf er überhaupt nicht mehr auftreten. Weil er in neun Stücken die Hauptrolle spielt, muß das Prager Theater, der „Cinoherni klub“, eine Zeitlang schließen. Charta 77, Verhaftungen. 1979 geht er mit Auslandsvisum ans Wiener Burgtheater. Als das Ensemble 1980 in Moskau gastiert, erhält Landovsky kein Visum, das Gastspiel und Fred Sinowatz‘ Besuch werden abgesagt. Die tschechische Staatsbürgerschaft wird ihm aberkannt, und die Wiener schreiben ihm empörte Briefe. Wegen seines Akzents. Er spielt kleine Rollen. „Der Mensch ist das, was er aushalten kann“, sagt Pavel Landovsky.

Seinetwegen konnten viele Szenen nicht in Prag gedreht werden. Die, die es dennoch gibt, sind fast mit versteckter Kamera gedreht, erzählt ein Mitarbeiter. Aber trotzdem ist nur Prag authentisch; die Geschichte, die der Film erzählt, ist nicht die von Pavel Landovsky. Sie ist surreal, ein Märchen. Sie beginnt, wie viele Prager Geschichten, auf dem Friedhof. Ein Philosophieprofessor darf nicht mehr lehren und wird Totengräber. Er emigriert, er trifft andere Emigranten, auf dem Flughafen. Er kehrt zurück, heimlich aus Heimweh, aber er geht wieder weg. Der Prager Friedhof ist der russische Friedhof in Wien, der Prager Flughafen ist auf dem Flughafen in Budapest gedreht, das Emigrantenhaus steht auf märkischem Sand, und der Flughafen, wo Landovsky landet, ist Paris, Orly. Follow Me hat keinen Ort. Er heißt Mitteleuropa.

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