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taz denk nach! -betr.: "Herr Weizsäcker, wann begnadigen Sie?", taz vom 18.6.88, S.1

betr.: „Herr Weizsäcker, wann begnadigen Sie?“, taz vom 18.6.88, Seite 1

(...) Was ist eigentlich in diesem Lande los, daß ein Mann mit der Vergangenheit hier zum Wächter über Moral, Demokratie, Gerechtigkeit und sogar Gnade ernannt wird. Die taz selbst hat am 10.11.84 über die dubiosen Machenschaften der Familie Weizsäcker geschrieben. Gerade das Umfeld bei der Verteidigung des Vaters, des Staatssekretärs Weizsäcker mit seinen antikommunistischen Ausbrüchen zeigt doch die Nichteinsichtigkeit bis heute. Die „berühmte“ Rede vom 8.5.85 hat doch lediglich opportunistischen Selbstdarstellungscharakter ohne persönliche Folgen. Sonst hätte Herr W. seine Mandela-Heß-Rede nie halten können, sonst hätte er Bittburg und Nesselwang gegeißelt und gegebenenfalls verhindert. Sonst wäre eine Volkszählung, wie er sie unterschrieb, nie erfolgt, gegen einen Innenminister Zimmermann hätte er schon wegen der Spielbanksache Front gemacht usw. Die Verhöhnung der afrikanischen Frontstaaten bei seinem Afrikabesuch sei ebenso unvergessen wie sein Verhalten als Vertreter der Kirche gegen Befreiungsbewegungen.

Die Terroristen kämen in eine Zwangslage. Eine Begnadigung durch den Herrn Weizsäcker käme der eigenen geistigen Kapitulation gleich. Gerade aber diese Situation zeigt, wie kurzsichtig die damaligen Entscheidungen für die totale Gewalt waren und sind. Aufbegehren der Massen ist immer nur Ultima Ratio. Eine solche Situation gab es aber weder in den siebziger Jahren noch heute. So ekelhaft und unerträglich es ist, daß Massenmörder und ihre Verteidiger in diesem Staat fast alle Stellen einnehmen konnten und deren Nachfolger im Geiste heute noch können, während unisono von SPD bis CSU die meisten der Opfer von Einfluß und Entschädigung ausgeschlossen bleiben. Ekel ist aber kein Grund zur Revolution, sondern ein Grund für eine andere Art von Politik.

Ein Staat, der nicht nach dem Totalzusammenbruch fähig war, die Haupt- und Mittäter auszuschalten und sein Fundament so zu legen, daß Helfer des Herrn Hitler weder politisch noch wirtschaftlich je wieder Einfluß bekommen konnten, war kein Rechtsstaat, ist kein Rechtsstaat und wird nie mehr einer. Nur Gewalt und Revolution lösen diesen Staat nicht ab, verändern und erneuern ihn auch nicht, sondern zementieren ihn eher. Die jetzt sichtbare Zwangssituation zeigt das für die Terroristen deutlich. Man redet über Amnestie oder Nichtamnestie von Terroristen, aber über die viel größeren Untaten der Nazis redet keiner. Wäre die Bundesrepublik ein Rechtsstaat, würden die Fälle Globke, Schleyer und die gesamte NS-Justiz aufgearbeitet. Es gäbe außer Gustav Heinemann keinen weiteren der Bundespräsidenten, der je in das Amt gekommen wäre, am wenigsten der heutige.

Natürlich würde ich es um der Gerechtigkeit willen für richtig halten, daß die Terroristen mindestens gleich, eher etwas besser behandelt würden. Aber ich weiß nicht, ob ich den Mächtigen dieses Staates gönnen sollte, daß die Ausübung des Gnadenrechts durch einen Unwürdigen einem Zukreuzekriechen ähnlich ist.

Gerade eine Linke, die ein wenig auf sich hält, sollte sehr genau wissen, was sie vorschlagen sollte. Für diejenigen aber, die sich damals für Gewalt und Mord entschieden und eventuell noch heute zu einem solchen Handeln hinneigen, sollte sich die Frage stellen, war die Entscheidung nicht ein Kapitalfehler, der generell zu korrigieren ist.

Was aber ebenso wichtig ist: SPD, Grüne und die gesamte Linke sollten endlich von Herrn Weizsäcker gnadenlos Distanzierung und totale Verurteilung des Vaters fordern und sie sollte jede neue Amtszeit eines Bundespräsidenten W. ablehnen. Terroristen werden in diesem Land total verdammt, Nazimassenmörder und deren Verteidiger können höchste Ämter einnehmen. (...)

taz denke einmal darüber nach!

Jürgen Floerke, Hamburg 55

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