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EG-Gipfel: Wunschliste und Knackpunkte

■ Kohl will über seine Präsidenten-Zeit hinaus Weichen stellen / Zentrale Gipfelthemen: Sozialpolitik und Währungsunion / Außenpolitik der Gemeinschaft wird wichtiger / Delors-Bericht über Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit / Umweltschutz rangiert als Kanzler-Hobby / Entschließung zu Südafrika angestrebt

Bonn (afp) - Der gemeinsame Binnenmarkt 1992 als wichtigstes europapolitisches Vorhaben sowie die Perspektiven der europäischen Integration für die nächsten Jahre werden die beherrschenden Themen des 39. Rats der europäischen Staats und Regierungschefs am Montag und Dienstag in Hannover sein. Dabei wird es nach Bonner Vorstellung vor allem darum gehen, Leitlinien und Prioritäten für die kommenden Arbeiten am Binnenmarktprogramm bis zur „Halbzeit - Ende 1989“ aufzustellen.

Nach der in bilateralen Konsultationen erfolgten Verständigung der Zwölf auf zwei weitere Amtsjahre von EG -Kommissionspräsident Jacques Delors wird diese Personalie auf dem Gipfel nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.

Bundeskanzler Helmut Kohl wird den elf Partnern eine selbstbewußte Bilanz der sechsmonatigen deutschen EG -Präsidentschaft präsentieren. Tenor: Europa im Aufbruch und ein Zugewinn an Dynamik. Zunächst möchte Bonn dem Einladungsschreiben des Kanzlers an die elf Partner zufolge am Montag Leitlinien und Prioritäten für die kommenden Arbeiten am Binnenmarktprogramm bis zur Halbzeit Ende 1989 aufstellen. Diesem Rahmenplan wurde in der Brüsseler EG -Kommission mit einiger Skepsis entgegengesehen. In ihren Kreisen wurde von einem „delikaten Unterfangen“ gesprochen, weil die kommenden Präsidentschaften Griechenland und Spanien bereits signalisiert hätten, daß sie ihre Bewegungsfreiheit von der ausklingenden deutschen Präsidentschaft nicht einengen lassen wollten. Große politische Bedeutung wird der Frage „Binnenmarkt und soziale Dimension“ von der Bundesregierung zugemessen.

Nach Ansicht Bonns ist der Binnenmarkt nur zu erreichen, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen - insbesondere die Gewerkschaften - für das Vorhaben zu gewinnen seien. Der Präsident des Europäischen Gewerkschaftsbundes, der DGB -Vorsitzende Ernst Breit, hat im Vorfeld des Gipfels im Gespräch mit EG-Ratspräsident Helmut Kohl denn auch vor erheblichen sozialen Konflikten in Europa gewarnt, sollte bei der Verwirklichung des gemeinsamen Wirtschaftsraums die soziale Flankierung außer acht gelassen werden.

Kohl seinerseits hat mehrfach unterstrichen, daß der Binnenmarkt nicht zu einer Aufweichung der deutschen Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer beziehungsweise ihrer Vertretung führen dürfe. Ferner sollen in Hannover auch Vorbereitungen getroffen werden, die währungspolitische Zusammenarbeit zu verbessern. „Unser Ziel ist die Europäische Union, und dazu gehört eine Wirtschafts- und Währungsunion mit einem europäischen Zentralbanksystem und einer europäischen Währung“, erklärte Kohl im Vorfeld des Gipfels.

Dem Kanzler schwebt die Einsetzung eines (oder zweier) Expertengremiums(en) unter Beteiligung der europäischen Zentralbanken vor, das (die) innerhalb der nächsten zwölf Monate einen Bericht über die Neugestaltung der währungspolitischen Kooperation vorlegen sollte(n). In der Leine-Metropole wird es aber nicht um einen Beschluß zur Errichtung einer Europäischen Zentralbank gehen. Eine solche Bank müsse am Ende des Weges, eingebettet in ein europäisches Zentralbanksystem, stehen.

Die britische Regierungschefin Margaret Thatcher hat bereits vor dem Unterhaus der Idee einer europäischen Zentralbank eine Absage erteilt. Eine derartige Institution werde nur dann entstehen, wenn es die Vereinigten Staaten von Europa mit einer souveränen Regierung und einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik gebe. Bei zwölf unabhängigen Regierungen stehe das aber nicht zur Debatte. Sie sehe daher keinen Sinn in Forschungsberichten über eine europäische Zentralbank, meinte die britische Premierministerin. Mit Blick auf die Außenbeziehungen der EG plädiert Bonn dafür, daß Europa durch eine selbstbewußte und weltoffene Politik seine Verantwortung wahrnimmt.

Insbesondere durch den Einsatz von Bundesaußenminister Hans -Dietrich Genscher sind die Regionalkooperationen der Zwölf in den vergangenen sechs Monaten erheblich intensiviert worden - u.a. durch die 4. San Jose-Konferenz mit Zentralamerika, mit den ASEAN-Staaten, das Golf -Kooperationsabkommen, die Aufnahme von Beziehungen zwischen Europäischer Gemeinschaft-Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) des Ostblocks sowie die Wiederbelebung des Europäisch-Arabischen Dialogs (EAD). Genscher wird am zweiten Tag des Gipfels auch seine positive - Einschätzung der Perspektiven des Ost-West -Verhältnisses darlegen. Bonn strebt ferner eine Entschließung zu Südafrika an. Darin wollen sich die Staats und Regierungschefs gegen die drohende Hinrichtung der „Sechs von Sharpeville“ wenden, ebenso gegen die von Pretoria anvisierte Unterbindung ausländischer Finanzhilfe an Anti-Apartheid-Organisationen.

Kohl will auch den Umweltschutz zum Gipfelthema machen, insbesondere will der Kanzler über die besorgniserregende Verschmutzung der Gewässer sprechen.

Ein weiterer Tagesordnungspunkt ist „der Schutz der offenen Gesellschaft vor den verschiedenen Formen grenzüberschreitender Kriminalität“. Jacques Delors wird den Gipfelteilnehmern einen mündlichen Bericht über die Phänomene Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit geben. Dieses Thema soll am Montag abend angerissen werden, wenn über Ursachen, Beschaffenheit und Ausmaß der Arbeitslosigkeit vertieft gesprochen werden wird. Am Dienstag vor Wiederaufnahme der Gipfel-Gespräche wird der Bundeskanzler zum traditionellen bilateralen Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand zusammentreffen. Am Nachmittag wird Kohl vor der Presse die Ergebnisse des Gipfels erläutern. Am 1. Juli übernimmt Athen die Präsidentschaft der Zwölf.

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