: Fünf Wochen Kubat-Dreieck
76 Millionen Mark mußte der Berliner Senat der DDR für den Gebietsaustausch als „Wertausgleich“ zahlen. Der Preis entsprach der Nachfrage: Der Senat kann mit dem vier Hektar großen Landzipfel eine lang geplante vier- bis sechsspurige Schnellstraße einfacher realisieren. Gegen den Bau dieser „Westtangente“ protestiert seit 14 Jahren eine Bürgerinitiative.
Aus Protest gegen den Autobahnbau, aber auch um zu „leben, lieben, lachen und dem Scheißsystem ein Ende zu machen“, hatte sich am 25. Mai eine rund 40köpfige, bunt gemischte Besetzercombo inmitten des Biotops mit Zelten häuslich niedergelassen - von Autonomen über Umweltschützer bis zu Alten und Sympathisanten, von 13jährigen Trebegänger bis zum 50jährigen Arbeitslosen bis hin zu AL-Aktivisten. DDR -Grenzpolizisten forderten sie anfangs noch auf, das Gelände zu räumen, - aber nachdem man sich auf einen Mindestabstand zur Mauer geeinigt hatte, herrschten nach Osten hin friedliche Verhältnisse.
Probleme gab es fortan vor allem mit der West-Berliner Polizei. Die war einigermaßen genervt, daß sie den „rechtsfreien Raum“ nicht betreten konnte, solange das Gelände nicht endgültig an den Senat übergeben war, und bewirkte durch eine geschickte Provokation, daß die Besetzung zu einem paramilitärischen Konflikt wurde. Ein Besetzer habe der Polizei mit einer Pistole gedroht, lautete die Polizeimeldung, die nicht nur von der Springerpresse begierig aufgenommen wurde. Dabei wußte die Polizei von Anfang an, daß es sich bei der Pistole um ein Spielzeug handelte. Denn ihr Besitzer, der 18jährige unter Vormundschaft stehende Christian, ist stadtbekannt: Auch die taz besucht er gelegentlich mit seiner Kamera aus Holz, mit diversen 'Presseausweisen‘ ausgestattet.
Nach diesem Vorfall wurde diesseits und jenseits die Front befestigt: Die Polizei sperrte das Gelände ringsum mit einem hohen Zaun ab, an dem 150 Beamte in Schichten Wache schoben. Lebensmittel- und Baumaterialtransporte in das Lager wurden behindert, Personalien und Taschen der Ein- und Ausgehenden schikanös kontrolliert. Die Besetzer antworteten mit Gräben und Barrikaden - so kam es bald zu handfesten Konfrontationen: stundenlanger Tränengas- und Wasserwerferbeschuß von seiten der Polizei, Steinwürfe und Zwillenschüsse vom Dreieck her.
Wegen der ständigen Scharmützel mit der Polizei war aber auch unter den Besetzern - längst auf über 150 Köpfe angewachsen - Streit entbrannt. Die „Müslis“ warfen den „Mollies“ vor, ihnen gehe es nicht um Inhalte, sondern um die Grundhaltung „Alle Bullen sind Schweine“. „Labersäcke“, schimpften die Mollies zurück. „Jeder weiß doch, daß die Welt an den Arsch geht. Wir handeln.“
Ohne die hundertfache Polizeipräsenz und ohne die Eskalationsstragie des Berliner Innensenators Kewenig hätte es die nächtlichen Schärmützel nicht gegeben. Doch selbst als sich AL, Netzwerk, Humanistische Union und Liga für Menschenrechte als Vermittler anboten, blieb der Senat stur: keine Gespräche mit den Besetzern. Vermittlung? Nur mit dem Ziel, daß das Gelände so schnell wie möglich verlassen wird.
Die Besetzer hatten längst ihr Interesse an einer gewaltfreien Lösung signalisiert. Ihre Zustimmung zu Verhandlungen war nur an eine Bedingung geknüpft: Der Zaun um das Dreieck müsse weg. Weil ihnen dieser Gefallen nicht getan wurde, schritten sie Anfang der Woche in einer nächtlichen Aktion selbst zur Tat. Nachdem sie das Monstrum demontiert hatten, und die Polizei sich mit stundenlangen Tränengas- und Wasserwerferbeschuß gerächt hatte, herrschte eine ganze Woche lang Ruhe - bis zur Räumung gestern früh.
Plutonia Plarre
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen