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Ein guter Monarch und zu viele Untertanen

■ Was wird bleiben nach Abschluß der Moskauer Allunionskonferenz? / Aus Moskau Erich Rathfelder

Die Perestroika ist keine Parteisache mehr. Die Bürger der Sowjetunion konnten vier Tage lang ihre Konferenz -Delegierten bei den ersten Trockenübungen in Sachen Demokratie beobachten. Was die Partei Lenins zaghaft an Streitkultur zwischen den gewohnten Kulissenkämpfen und tönernen Selbstdarstellungen entwickelte, muß jetzt im ganzen Land ausprobiert und weiterentwickelt werden. So scheint es sich jedenfalls der gute Monarch Michail Sergejewitsch Gorbatschow zu wünschen. Doch noch wehren sich die alten Köpfe gegen das Neue Denken.

Bis weit nach 11 Uhr bleibt es in diesen Tagen in Moskau hell. Die schwülen Temperaturen treiben die Menschen auf die Straßen, auch wenn die meisten Kioske, die wenigen Cafes und Restaurants schon längst geschlossen haben. Tausende flanieren in der Fußgängerzone des Arbatviertels, und viele bleiben bei den Menschentrauben stehen, in denen heiße politische Dispute ausgefochten werden. „Ich bin Pazifist und will die ganze Freiheit. Die freie Republik Ural, das wäre was“, träumt ein Jugendlicher am Rande des Geschehens. Er, der aus der Stadt Swerdlowsk im Ural kommt und eine 24 -stündige Rückreise vor sich hat, trägt stolz einen selbstgebastelten Sticker mit dem Friedenszeichen am Revers. Was Gorbatschow macht, ist ihm immer noch zu wenig. Unverholen fordert er ein Mehrparteiensystem und wirbt für die „Demokratische Union“, die seit einem Jahr über das ganze Land verstreut Gruppen bilden konnte. Gorbatschow will in seinen Augen nur die Macht der Kommunistischen Partei retten, er gibt aber zu, daß ohne seinen Kurs gar keine Hoffnung wäre. Wenn er aber jemanden in der Parteiführung gelten lassen will, dann Boris Jelzin. „Der ist unser Held. Als der vom Posten des Bürgermeisters in Moskau abgelöst wurde, gab es bei uns eine große Demonstration. Danach haben wir uns organisiert.“ Die Swerdlowsker haben ihn also nicht vergessen, den ehemaligen Parteichef ihrer Stadt.Als Jelzin am Freitag mittag das Rednerpult besteigt, ist ein weiterer Höhepunkt der 19.Allunionskonferenz erreicht. Während vor dem Roten Platz schon hunderte von schwarzen Staatskarrossen auffahren, um das Ende der Konferenz zu signalisieren, geißelt der Unverwüstliche das Verhalten aller jener im Zentralkomitee, die in der Breschnewzeit die „negativen Tendenzen“ nicht haben stoppen können. Die Verantwortlichen müßten dafür zur Rechenschaft gezogen werden, erklärt der im Februar aus seinen Parteiämtern Entlassene und spricht damit einen Punkt an, der von Gorbatschow und auch den anderen Rednern bisher unausgesprochen bleibt. Die Beschleunigung der Perestroika ist ohne personelle Konsequenzen gar nicht denkbar. Und auch für den von außen kommenden Betrachter bleibt es ein Rätsel, wie die meisten Funktionäre die Parolen der Perestroika mit Leben füllen wollen. In ihren Reden gerinnen die neuen Inhalte zu gleichmütig wiederholten Formeln und entleeren sie dadurch von jeder Verbindlichkeit. Die Sprache der Perestroika ist zwar durchgesetzt. Keiner darf mehr das Alte wollen und es auch noch sagen. Doch die alten Positionen leben weiter in neuem Kleide.

„Viele Funktionäre sind bei uns noch nicht gewohnt, frei mit den Menschen zu sprechen“, bedauert ein Moskauer Journalist, glaubt aber, daß sich dies bald ändern wird. Als an dem Wochenende vor der Konferenz über 1.000 Demonstranten ein Denkmal für die Opfer des Stalinismus forderten und verlangten, mit Gorbatschow oder Jakowlew zu sprechen, kam die Miliz und antwortete auf ihre Weise. Die Verhafteten wurden zwar wieder freigelassen, ein Dialog mit der Menge aber hätte den Parteiführern in der mit der „Demokratischen Union“ symphatisierenden Menge Respekt verschafft. Polizeimaßnahmen oder Prügel bleiben so die Schule für eine Opposition, die durchaus noch nicht in allen Fragen klare Positionen hat. Inzwischen ist zumindest der Bau eines solchen Denkmals beschlossen worden.

Der Fall Jelzin

Als Jelzin vor dem Auditorium die 5.000 dazu auffordert, alle Tabuzonen aufzugeben, erntet er Beifall. Doch für viele Delegierte muß es wie eine Ohrfeige wirken, wenn ausgesprochen wird, daß sie keineswegs alle von der Basis gewählt, sondern im alten Stil ernannt worden sind. Immer noch ist das starker Tobak für viele Delegierte. So ist es nur folgerichtig, daß der Wunsch Jelzins nach Rehabilitierung von Gorbatschow mit dem Hinweis zurückgewiesen wird, daß dies gar nicht nötig sei, weil er niemals verurteilt worden sei. Der Fall Jelzin ist exemplarisch dafür, wie schwer sich viele in der Partei noch tun, selbst nach der lebendigen und witzigen Debatte, prinzipiell Positionen zu goutieren, die vom Hauptstrom abweichen. Denn die Ansprüche der Perestroika setzen eine neue Charakterstruktur voraus. Viele sind überfordert, die im Raster des alten Systems Karriere gemacht haben.

Die neuen Sowjets

Gorbatschow jedoch repräsentiert beide Seiten: Mit seinen Zwischenrufen und Zurechtweisungen einzelner Delegierter bewährt er sich als patriarchalischer Chef, der das Heft fest in der Hand hält. Mit seiner Härte und Führungskraft gewinnt er den Respekt der Traditionalisten. Die Reformer sind begeistert von seiner Dynamik, seinem Charme und seiner Intelligenz, seiner Aufrichtigkeit und seinem Gestaltungswillen, seiner Fähigkeit, Neues aufzunehmen und in die Öffentlichkeit zu tragen. In der Kontroverse mit dem Theaterregisseur und Schauspieler Uljanow macht er klar, daß Glasnost für alle gelten muß. Wie ein Leitfaden zieht sich durch seine Debattenbeiträge der Gedanke von einer freien Diskussion. Das neue Denken soll sich gerade darin erweisen, daß nicht wieder eine Linie als „richtige“ propagiert wird. Das neue Denken darf nicht die Umkehrung des alten sein. Konsequenterweise tritt Gorbatschow in seinem Schlußbeitrag vehement dafür ein, daß Jelzin seine Meinung sagen kann.

Doch schon werden Stimmen laut, die auch von ihm fordern, ins Glied zurückzutreten, wenn seine Zeit abgelaufen ist. Die Begrenzung der Amtsperioden für Funktionsträger, die jetzt beschlossen ist, darf auch nicht vor der Person Gorbatschows haltmachen. „Die institutionelle Absicherung der Perestroika ist wichtiger als eine Person“, ist die durchgängige Meinung einer Gruppe von Studenten an der Juristischen Fakultät. Sie verlangen damit von Gorbatschow, seine Macht als Chef, als Führer auszunützen, um die institutionelle Reform voranzubringen, mit dem Ziel, sich letztendlich selbst zu entmachten. Und bisher zweifelt auch niemand daran, daß Gorbatschow die in Zukunft geschaffene neue Verfassungswirklichkeit der Sowjetunion über seine persönlichen Ambitionen stellen wird.

Aber soweit ist es noch nicht. Denn vorläufig muß Gorbatschow die höchste Stufe erst erklimmen. Die Stärkung der Stellung des Vorsitzenden des Obersten Sowjet, die jetzt von den Delegierten abgesegnet wurde, wird Gorbatschows Machtspielraum erweitern. Übernähme er diesen Posten und bliebe er gleichzeitig Parteichef, würde er eine Machtfülle auf sich vereinigen, die ihn in die Lage versetzte, am Politbüro vorbei in die Rolle des guten Monarchen zu schlüpfen, um die Hindernisse im Parteiapparat gegenüber der Reform zu brechen.

Der entscheidende Anspruch der Reformer vor der Konferenz, nämlich die Sowjets zu funktionierenden Volksvertretern umzubauen und von der Allmacht der Partei zu befreien, ist noch nicht ganz gelungen. Für Professor Wladimir W. Pustagarow, einen Staatsrechtler an der Akademie der Wissenschaften, stimmt die Richtung trotzdem. Mit der Parole „Alle Macht den Räten“ wurde die russische Revolution gemacht, jetzt sollen diese Organe der Volksvertretung wieder zu neuem Leben erweckt werden. Traten die Volksvertreter bisher nur zweimal im Jahr zusammen, um die Entscheidungen des eigenen Exekutivkomitees abzusegnen, sollen sie jetzt wieder eigene Macht erhalten. Und dazu gehört auch ihre finanzielle Ausstattung. Auf allen Ebenen, vom Dorf über den Gebietssowjet bis hin zum Obersten Sowjet sollen die Volksvertreter künftig ständig tagen und von ihrer Betrieben oder Instutionen dafür freigestellt werden.

In dem altehrwürdigen Gebäude eines Forschungsinstituts nahe der Leninbibliothek weist Professor Pustagarow außerdem darauf hin, daß die Funktionen der Exekutivkomitees der Sowjets von denen der Volksvertreter, der Deputierten, in Zukunft getrennt sein werden. Bisher seien die Mitglieder des Exekutivkomitees zwar auch von den Volksdeputierten gewählt, in der Praxis aber hätten sich diese Komitees zu riesigen Bürokratien entwickelt, die über die Sowjets dominierten.

Das soll nun alles anders werden. Zwar hat das Politibüro noch durchgesetzt, daß die Parteisekretäre automatisch zu Vorsitzenden der Sowjets gewählt werden. Und das sieht auf den ersten Blick so aus, als würde die Partei ihre Macht in den Sowjets erhalten. Doch dieser Passus könnte auch umgekehrt in die Partei hineinwirken. Fällt nämlich ein Parteisekretär bei dieser Wahl durch, müßte die Partei einen neuen Kandidaten aufstellen. Und damit ist die Lunte des Konflikts in die Partei selbst hineingelegt.

„Die verfassungsmäßige Absicherung der Reformen, die Rechts - und Justizreform, die Stärkung der Rechtsanwälte, die Eingrenzung der Macht der Sicherheitsapparate, kurz und gut, die Sicherung der Bürgerrechte, das ist es, was jetzt auf den Weg gebracht ist“, zieht ein Moskauer Parteifunktionär sein Resümee. „In der Wirtschafts- und auch in der Nationalitätenpolitik hat die Debatte zwar noch nicht so viel gebracht. Diese Probleme werden uns aber in der nächsten Zukunft stark in Anspruch nehmen. Vergessen wir aber nicht, daß die Genossenschaftsgesetze schon vor einigen Wochen verabschiedet worden sind.“

Gorbatschows Öffnung des politischen Systems in der Sowjetunion ist auf dem Weg. Aus den papiernen Parolen ist ein Stück Wirklichkeit geworden. Und je weiter die Strukturen verändert werden, umso stärker wächst das Zutrauen der Gesellschaft in die Reform. Waren die Impulse erst von den Intellektuellen der Hauptstadt, dann von der Partei aufgegriffen worden, wachsen jetzt im ganzen Land Initiativen, die der Perestroika von unten Beine machen wollen. Die Perestroika ist keine Parteisache mehr. Das ist die Botschaft der Konferenz. Jeder kann an seinem Arbeitsplatz, in seinem Lebensbereich mit der Umgestaltung anfangen, ohne auf die Weisungen eines guten Monarchen zu warten.

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